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Ich Bin Gott

Titel: Ich Bin Gott
Autoren: Giorgio Faletti
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unfeierlich am Busbahnhof abgesetzt hatte. Dann war er allein gewesen, plötzlich Statist und keine Hauptfigur mehr. Um ihn herum war die Welt, die richtige Welt, die nicht auf ihn gewartet hatte. Die leeren, beruhigenden Wände des Krankenhauses umgaben ihn nicht mehr. Als er in der Schlange am Fahrkartenschalter stand, fühlte er sich wie beim Casting für Freaks, den Film von Ted Browning. Der Gedanke zauberte ihm ein Lächeln auf das Gesicht. Das war das Einzige, was ihm blieb, um nicht zu tun, was er nächtelang getan und sich dann für immer verboten hatte: weinen.
    Viel Glück, Wendell …
    » Sechzehn Dollar.«
    Die Abschiedsworte von Colonel Lensky verschmolzen mit der Aufforderung eines Angestellten, der ihm die Fahrkarte für die erste Etappe seiner Reise hinlegte. Verborgen hinter dem Schlitz seines Schalters hatte der Mann den Teil des Gesichts, den der Corporal der Welt darbot, noch nicht gesehen. Dafür ermöglichte er ihm die Gleichgültigkeit des unbekannten Reisenden, die er sich erhoffte.
    Als er jedoch den Geldschein über den Tresen schob, die Hand in ihrem dünnen Baumwollhandschuh, blickte der Mann mit dem schütteren Haar, den schmalen Lippen und den erloschenen Augen auf. Für einen Moment ließ er den Blick auf dem Gesicht seines Gegenübers ruhen, dann senkte er ihn wieder. Seine Stimme schien von dort zu kommen, von wo er selbst kam, wo auch immer das war.
    » Vietnam?«
    Der Soldat ließ einen Augenblick verstreichen, bevor er antwortete.
    » Ja.«
    Überraschend schob ihm der Fahrkartenverkäufer den Schein wieder zu. Die Verwunderung des Soldaten schien er nicht zu bemerken. Er fügte ein paar Worte hinzu, die eine lange Geschichte erzählten.
    » Ich habe einen Sohn dort verloren. Morgen sind es zwei Jahre. Behalte das Geld. Du kannst es besser gebrauchen als die Busgesellschaft.«
    Beim Weggehen überfiel ihn dasselbe Gefühl wie am Vortag, als er sich von Jeff Anderson verabschiedet hatte. Diese zwei Männer würden für immer alleine sein, der eine in seinem Rollstuhl, der andere hinter seinem Fahrkartenschalter, in einer nunmehr ewigen Dämmerung. Gedankenverloren wechselte er Busse, Reisebegleiter und Gemütsverfassungen. Nur eines konnte er nicht auswechseln: sein Aussehen. Er ließ die Reise langsam angehen, denn er hatte keine Eile. Außerdem musste er aufpassen, denn er wurde leicht müde und brauchte viel Erholung. Er stieg in drittklassigen Motels ab, wo er wenig und schlecht schlief, mit knirschenden Zähnen und verkrampftem Kiefer. Und mit immer wiederkehrenden Träumen. Posttraumatisches Schocksyndrom hatte jemand das genannt. Die Wissenschaft fand immer einen Weg, um die Zerstörung eines Menschen aus Fleisch und Blut auf eine statistische Größe zu reduzieren. Am eigenen Leib hatte er erfahren, dass der Körper sich nie völlig an den Schmerz gewöhnt. Nur dem Geist gelingt es hin und wieder, sich mit dem Grauen vertraut zu machen. Und bald würde er jemandem zeigen können, was er am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte.
    Nach vielen Meilen war aus Mississippi Tennessee geworden, das die Magie der Räder dann in Kentucky verwandelte, um schließlich die vertraute Landschaft Ohios vor seinen Augen auftauchen zu lassen. Um ihn herum und in seinem Innern reihten sich die Bilder der Landschaft auf wie fremde Orte, eine Linie, die mit einem Buntstift auf der Karte eines unbekannten Landes gezogen wurde. Strom- und Telefondrähte liefen an der Straße entlang und transportierten Energie und Worte über seinen Kopf hinweg. Die Menschen in ihren Häusern waren wie Marionetten, und die Drähte verhalfen ihnen dazu, sich zu bewegen und die Illusion zu nähren, am Leben zu sein.
    Hin und wieder fragte er sich, welche Energie und welche Worte er eigentlich brauchte. Vielleicht waren auf der Liege von Colonel Lensky alle Sätze gesagt und alle Mächte heraufbeschworen worden. Eine chirurgische Liturgie, der sich sein Geist verweigert hatte, wie ein gläubiger Mensch sich einem heidnischen Ritual verweigert. Er hatte seinen kleinen Glauben im Nichts versteckt, an einem geheimen Ort seines Geistes, wo nichts ihn ins Wanken bringen oder ihn zunichtemachen konnte.
    Was geschehen war, ließ sich nicht ändern und nicht vergessen.
    Nur vergelten.
    Als er spürte, dass der Bus bremste, kehrte er wieder in die Gegenwart zurück. Die Zeit war unwiderruflich jetzt, und der Ort wurde durch ein Straßenschild bestimmt, das ihm seine Ankunft in Florence bestätigte. Die Außenbezirke
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