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Ich bin der letzte Jude

Ich bin der letzte Jude

Titel: Ich bin der letzte Jude
Autoren: Chil Rajchman
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getrennt,
ohne wie vereinbart die paar Schluck Wasser dafür zu bekommen.
    Ich habe Glück. Ich bitte einen Ukrainer um etwas Wasser,
er verlangt hundert Zloty für eine Flasche. Ich willige ein. Kurz darauf kommt
er mit einem halben Liter zurück. Ich frage ihn, wie lange wir noch fahren
werden. Er antwortet: Drei Tage, denn wir fahren in die Ukraine. Ich fange an
zu denken, vielleicht sei das tatsächlich die Wahrheit. Wir sind schon seit
fast fünfzehn Stunden unterwegs und haben nicht mehr als einhundertzwanzig Kilometer
zurückgelegt.

2
    Wir kommen in einen Wald.
Vor unseren Augen ein Bild des Todes.
Männer nach rechts, Frauen nach links!
    Es ist vier Uhr früh, wir nähern uns dem Bahnhof von
Treblinka, sieben Kilometer von Małkinia entfernt. Der Zug hält. Die Waggons
bleiben geschlossen, und wir wissen nicht, was mit uns sein wird. Wir warten
darauf, dass der Zug weiterfährt. Meine Schwester sagt, sie habe Hunger. Aber
wir haben fast nichts zu essen. Wir haben unser Schtetl überstürzt verlassen und
keine Lebensmittel besorgen können. Wir haben kaum etwas gegessen. Ich erkläre
meiner Schwester, dass noch ein langer Weg vor uns liegt und dass wir
haushalten müssen – aus Angst, unser Proviant könnte nicht für die ganze Reise
ausreichen. Sie versteht und beschließt nicht zu essen. Sie sagt mir, dass sie
nicht besonders hungrig sei.
    Das Warten dauert nicht lange, nur zur Überprüfung. Dann
fährt der Zug weiter.
    Draußen ist schon heller Tag. Wir werden unruhig, denn der Zug fährt
zurück. Er fährt langsam, und wir kommen in einen Wald. Wir schauen uns an. Was
ist los? Durch die Luke des Waggons bietet sich uns ein erschreckendes Bild,
ein Bild des Todes. Berge von Kleidern. Mir ist sofort klar, wir sind verloren.
Das ist das Ende. Kurz darauf gehen die Türen auf, und wir werden angebrüllt: » Raus! Raus! « 20 Ich zweifle nicht mehr im Geringsten an
unserem Unglück. Ich nehme meine Schwester am Arm und steige schnell aus dem
Zug. Ich lasse alles Gepäck zurück. Meine arme Schwester fragt, warum ich unsere
Koffer stehen lasse. Ich antworte: »Das ist nicht nötig …« Mehr kann ich ihr
nicht sagen, weil das mörderische Gebrüll wieder einsetzt: »Männer nach rechts,
Frauen nach links!« Wir können uns kaum zum Abschied küssen, und schon werden
wir für immer auseinandergerissen.
    Von überall her regnet es Schläge. Die Mörder jagen uns in Reihen in
einen Hof hinein. Brüllend fordern sie uns auf, alles, was wir noch haben,
abzugeben, das Gold, das Geld, die Wertgegenstände. Wer etwas zurückbehält,
wird erschossen. Fast alle geben ab, was sie noch besitzen. Dann befehlen sie
uns, wir sollen uns ausziehen und unsere Schuhe zusammenbinden. Wir kommen dem
Befehl so schnell wie möglich nach, denn die Peitschen kreisen über unseren
Köpfen. Wer sich zu langsam auszieht, wird brutal geschlagen.
    Ich bin schon nackt und schaue mich um. Ich zweifle schon nicht mehr
an unserem Schicksal, wir sind verloren. In den Baracken gegenüber kann ich
sehen, wie sich die Frauen und Kinder ausziehen. Verzweifelte Rufe sind zu
hören. Unmöglich, sich ihnen zu nähern. Uns wird befohlen, uns in Reihen
aufzustellen. Alle gehorchen. Auf die, die noch beim Ausziehen sind, wird
mörderisch eingeschlagen. Als alle in einer Reihe stehen, kommen sie näher und
wählen etwa hundert Männer aus, nur junge. Ich bin einer von ihnen. Die anderen
werden weggeführt, wohin, wissen wir nicht. Ich bin unter den hundert
Ausgewählten. Von Weitem sehe ich meinen Freund Rojsman mit seinem Sohn. Ich
weiß nicht, ob es besser ist, dort zu bleiben. Trotzdem winke ich ihm, damit er
in meine Gruppe kommt.
    Wir stehen ein paar Minuten da, bis alle anderen
weggebracht sind. Dann werden wir wieder zum Gepäck zurückgetrieben. Jeder von
uns muss ein Paket aufnehmen, das größer als er selbst ist. Wer nur einen
kleinen Koffer nimmt, kriegt unzählige Peitschenhiebe. Wir werden zu einem
großen Platz getrieben. Am Weg sind Wachposten aufgestellt, einer neben dem
anderen, Glieder, die eine lebende Kette bilden, damit niemand von uns den
Peitschenhieben entkommt.
    Ich erreiche den Platz, und das Grauen packt mich: Ich sehe Berge
von Gepäck, unterschiedlich hoch aufgetürmt. Wir werden zu einem dieser Berge
aus Laken, Decken und Säcken gestoßen. Vor den Haufen stehen Leute und
sortieren. Ich sehe, dass alle Juden sind, ich laufe zu ihnen, und im
Vorbeigehen versuche ich, sie zu fragen: »Meine Brüder, sagt mir, was geht
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