Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich bin der letzte Jude

Ich bin der letzte Jude

Titel: Ich bin der letzte Jude
Autoren: Chil Rajchman
Vom Netzwerk:
Transporte die Juden aus
dem Warschauer Getto, dann aus dem gesamten Generalgouvernement, insbesondere
aus dem Distrikt Radom, und später auch aus anderen Gebieten. 10
    Nach Treblinka wurden zwischen 700.000 und 900.000 Juden deportiert 11 , die mit auf die
Reise genommen hatten, was sie noch besaßen: Kleidung, Werkzeuge, Schmuck, Lebensmittel.
    Sofort nach Ankunft der Transporte wurde eine kleine Anzahl junger
Männer (auch einige wenige Frauen) ausgewählt. Sie bildeten die
»Arbeitskommandos«, auch »Judenkommandos« genannt, die die beträchtlichen
Mengen an Gütern und die Menschen abfertigen mussten. Einer von ihnen war Chil
Rajchman, der, wie Abraham Bomba 12 ,
den Frauen die Haare schor, Kleidungsstücke sortierte und bündelte und dann –
ins Totenlager versetzt – Leichen transportierte.
    Ende 1942 wollte die SS -Lagermannschaft
die Leichen, die bisher begraben wurden, durch Verbrennen spurlos verschwinden
lassen. Die Arbeiter des »Judenkommandos« mussten die Toten wieder ausgraben,
bis »der Artist« im Auftrag des Lagerkommandanten Franz Stangl die
industriemäßig arbeitende Kombination aus Bagger und Verbrennungsrost
einführte, die Rajchman so anschaulich beschreibt. Da klar war, dass die
Nationalsozialisten um keinen Preis auch nur die geringste Spur, geschweige
denn irgendeinen Augenzeugen der Massentötung zurücklassen würden, bot allein
ein Aufstand eine Überlebenschance. Am Tag der Revolte setzten Aufständische
zwar Lagergebäude in Brand, aber die Gaskammern blieben intakt, und das Morden
ging bis Oktober 1943 weiter. 13 Dann wurden alle Einrichtungen dem Erdboden gleichgemacht und Kiefern und Lupinen
gepflanzt. Aus den Ziegelsteinen der Gaskammern wurde ein Bauernhaus
errichtet, das man mit einem ukrainischen Wachmann besetzte, der darüber zu
wachen hatte, dass sich niemand für diesen Ort interessierte.
    »Wir betreten das Lager, wir gehen über die Erde von Treblinka«,
schreibt Wassili Grossman, der Treblinka Anfang September 1944 aufsuchte. »Und
die unter den Füßen nachgebende Erde ist aufgequollen und fett, als wäre sie
überreichlich mit Leinöl getränkt worden, die grundlose Erde von Treblinka wogt
wie ein abgrundtiefes Meer. Diese drahtumzäunte Einöde hat mehr Menschenleben
verschlungen als sämtliche Ozeane und Meere des Erdballs seit Bestehen des Menschengeschlechts.
    Die Erde speit Knochensplitter aus, Zähne, Dinge, Papiere, sie will
das Geheimnis nicht bewahren.
    Und die Dinge kriechen aus der berstenden Erde, aus ihren
unvernarbten Wunden. Da sind sie – die halbvermoderten Hemden der Ermordeten,
Hosen, Schuhe, grün angelaufene Zigarettenetuis, Uhrrädchen, Federmesser,
Rasierpinsel, Leuchter, Kinderschühchen mit roten Pompons, bestickte
ukrainische Handtücher, Spitzenwäsche, Scheren, Fingerhüte, Korsetts, Bandagen
und ganze Haufen von Geschirr klettern aus den Erdspalten an die Oberfläche:
Pfannen, Aluminiumbecher, Tassen, Kochtöpfe, Töpfchen, Schüsseln, Kannen,
Essenträger, kleine Kindertassen aus Galalith […] Immer weiter gehen wir über
die grundlose, schwammige Erde von Treblinka und bleiben plötzlich stehen.
Gelbe, kupferrote wellige, dichte Haare, feine, wunderbar zarte Mädchenhaare
sind in die Erde getreten, und daneben liegen helle Locken und etwas weiter auf
dem leuchtenden Sand schwarze, schwere Zöpfe, und da sind noch welche und
wieder andere! Offenbar ist das der Inhalt eines einzigen – nur eines
einzigen! – nicht abgesandten, vergessenen Haarsacks.«
    Etwa fünfzehn Jahre lang schien die Welt zu vergessen. Viele der
Überlebenden des Aufstands gingen in die USA , die
meisten in das junge Land Israel. Sie heirateten, zeugten Kinder und
arbeiteten. Außer Jankel Wiernik, dessen Augenzeugenbericht samt einem
Lagerplan 1945 in New York veröffentlicht wurde, und Schmuel Rajzman, der am
27. Februar 1946 beim Nürnberger Prozess aussagte, wollte offenbar niemand
darüber sprechen. Erst beim Eichmann-Prozess (1961) gingen Kalman Taigman,
Eliahu Rosenberg und Abraham Lindwaser anhand des von Jankel Wiernik gebauten
Lagermodells 14 auf
Treblinka ein. Im Gefolge des Eichmann-Prozesses wurden weitere Gerichtsverfahren
eröffnet. 1964 bis 1965 führte das Landgericht Düsseldorf einen Prozess gegen
zehn »Verbrecher«, darunter Kurt Franz, der wie drei andere Angeklagte zu
lebenslanger Haftstrafe verurteilt wurde. Chil Rajchman reiste damals nicht
nach Düsseldorf. Im zweiten Treblinka-Prozess stand der Lagerkommandant Franz
Stangl vor
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher