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Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin
Autoren: Anne Butterfield
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doppelseitige Blätter, von denen neun Seiten unbedruckt sind – für die Stempel ( sellos ) der Herbergen, Hotels, Cafés und Kirchen am Weg. Ich trage meine persönlichen Angaben sowie das morgige Datum ein und kreuze das Kästchen an, das für Reisende » à bicyclette « vorgesehen ist. Ein wenig schuldbewusst betrachte ich das freie » à pied «-Kästchen und erwarte schon fast einen Tadel von Wim, denn das Rad zu benutzen ist sicher die einfachere Variante. Aber er bringt in mein credencial den ersten sello dieses Camino an, ein grünes Quadrat, in dem » ACCUEIL SAINT JACQUES St. Jean-Pied de Port« steht, dazu die symbolischen Darstellungen eines Schlosses, eines Schafs und eines Pilgers, der etwas trägt, das wie ein Köcher voller Pfeile aussieht. Ein anderer Pilger, vielleicht der heilige Jakob persönlich, hat ein Totenkopfgesicht und steht, einen Stab in der Hand, vor einer Bergkette.
    Wim reicht mir weitere Papiere sowie eine weiße Jakobsmuschel an einem Stück Schnur. Diese Muschel identifiziert mich als echte Pilgerin und muss an meiner Satteltasche befestigt werden, damit Autofahrer mich nicht irrtümlich für eine weltliche Berufspendlerin oder eine Tour-de-France-Teilnehmerin halten, die sich verfranzt hat. Wanderer befestigen die Muscheln an ihren Rucksäcken, um en route von ihren Pilgerkameraden erkannt zu werden, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass jemand, der mit Rucksack den gelben Pfeilen durch einen Buchenwald folgt, nicht nach Santiago de Compostela pilgert.
    »Wie bist du unterwegs?«, fragt Wim und wirft einen Blick auf mein credencial .
    »Mit dem Fahrrad.«
    »Wo ist es?«
    »Draußen.«
    Er besteht darauf, mich zu begleiten, um mein Gefährt sicherheitshalber in einem verschlossenen Schuppen unterzubringen.
    »Oh, ist das schwer!«, ächzt er. Beinahe kippt ihm das Rad um, als er es von der Wand wegschiebt.
    Er ist der Erste, der diesen wenig hilfreichen Kommentar abgibt, und er wird nicht der Einzige bleiben.
    »Ach, das geht schon«, entgegne ich, ohne selbst davon sonderlich überzeugt zu sein. »Beim Radeln spüre ich das Gewicht nicht.«
    Er schiebt mein Rad den Hügel hinauf, am Eingang der Herberge in Haus Nummer 55 vorbei, durch ein Tor und einen Garten in einen steinernen Schuppen. Allerdings schafft er es erst, das Fahrrad hineinzumanövrieren, nachdem ich die drei Taschen abmontiert habe. Als er mich mit je einer Packtasche über meinen Schultern, der Satteltasche in der einen und den Papieren in der anderen Hand sieht, nimmt er mir beide Packtaschen ab und führt mich in den Schlafsaal der Herberge. Mehr Hirte als Verwalter, verkörpert er mit seiner pastoralen Fürsorge die Hilfe, auf die Pilger auf ihrem Weg zählen können.
    »Bett 112, das ist deins, Anne«, sagt Wim und stellt die Packtaschen ab. »Falls du noch was brauchst, ich bin im Büro.«
    Ich würde ihn am liebsten bitten, mich nach Santiago zu begleiten. Allerdings darf ich mir dabei die Schlange der Pilger, die ihn bei seiner Rückkehr vor dem Büro erwarten würden, gar nicht erst vorstellen. Nachdem er gegangen ist, inspiziere ich den Raum und bin beeindruckt. Durch die offenen Fenster zwischen acht metallenen, in lockerem Abstand auf dem blank gewienerten Holzboden platzierten Stockbetten flutet Licht herein. Meine Angst vor über hundert Mitschläfern erweist sich als grundlos. 112 bedeutet Schlafsaal eins, Bett Nummer zwölf. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Herberge 2001 so schön gewesen wäre. Vielleicht ist sie renoviert worden. Jedenfalls istdiese Herberge nicht so »nasskalt« und »etwas zu gesellig«, wie sie Hans in »Ich bin dann mal weg« beschrieben hat.
    In der gegenüberliegenden Ecke des halb leeren Schlafsaals richtet sich gerade ein deutsches Ehepaar ein, und in den Kojen neben mir dösen zwei junge Leute aus Korea. Gegenüber packt ein britisches Pärchen seine Rucksäcke aus und wieder ein – obwohl es noch nicht einmal zwei Uhr nachmittags ist, bereiten sie schon ihren morgigen Aufbruch vor. An ein Fensterbrett gelehnt beginne ich, Wims Unterlagen zu studieren. Auf einem Blatt sind in siebzehn Linien die Höhenprofile der ersten siebzehn Etappen des Camino dargestellt, von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Carrión de los Condes. Ganz eben ist nur die letzte Linie von Frómista nach Carrión. Meine Stirn legt sich in tiefe Falten, während ich die Informationen überfliege. Mindestens elf der Profile zeigen Berge, die ich erklimmen muss. Einige von ihnen sind enorm hoch. Als
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