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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus
Autoren: Martin Wehrle
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Redaktionssitzung glich einem Begräbnis der Pressefreiheit. Ein Mitarbeiter schlug vor: »Ich könnte mal beschreiben, wie viel Energie bei uns zwischen den Abteilungen verlorengeht. Da gibt es heftige Beispiele.«
    Â»Eine gute Idee«, sagte der Pressesprecher-Chefredakteur, »aber solche Interna gehören in ein Meeting, nicht in diese Zeitung.«
    Â»Aber die Zeitung ist doch dazu da, solche Dinge anzusprechen!«
    Â»Eigentlich schon. Aber haben Sie mal überlegt, dass auch Kunden und Geschäftspartner unser Blatt in die Hand bekommen könnten? Und wollen Sie wirklich, dass die uns für eine Chaos­truppe halten?«
    Â»Aber wir machen doch eine Mitarbeiter-Zeitung – und kein PR -Blättchen!«
    Â»Dennoch müssen wir uns über die Außenwirkung im Klaren sein. Diese Zeitung soll unser Unternehmen spiegeln.«
    Auf diese Weise bügelte der Chefredakteur alle Ideen für kri­tische Artikel ab. Sogar vereinbarte Artikel der Mitarbeiter wurden von ihm mit spitzem Rotstift »redigiert«, was lediglich besser als »zensiert« klang. Ein Azubi hatte in einem Artikel über seinen Alltag geschrieben: »Einige Kollegen halten uns Azubis für Kopiersklaven. Das sind wir aber nicht, wir sollen etwas lernen.« In dem Artikel hieß es dann: »Etliche Kollegen haben erkannt: Wir sind keine Kopiersklaven, wir sollen etwas lernen.«
    Ebenfalls in den Fleischwolf der Zensur geriet der Artikel eines Mitarbeiters aus der Produktion. Er hatte in einer lebendigen ­Reportage über seine Arbeit darauf hingewiesen, dass die Quote der Arbeitsunfälle durch die Einführung eines neuen Schichtsystems gestiegen sei. Ausgerechnet dieser Absatz wurde vom Chefredakteur gestrichen, »nur aus Platzmangel«, wie er später be­haup­­tete.
    Und natürlich sorgte der Irrenhaus-Chefredakteur auch dafür, dass die Titelgeschichte im Sinne der Geschäftsleitung ausfiel: »Unsere Firma wird 75 – eine Erfolgsstory!« In diesem Beitrag ­bildete er alle Geschäftsführer seit Gründung der Firma ab – ein Horror-Kabinett, sogar ein Typ mit Hitler-Bärtchen aus den 1930er Jahren war dabei. Doch in dem Jubelartikel wurde kein einziger Mitarbeiter erwähnt. In der nächsten Redaktionssitzung forderte ihn ein Betriebsrat auf, nun zum Ausgleich das Gedicht »Fragen eines lesenden Arbeiters« von Brecht zu drucken, in dem es heißt:
    Â»Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon,
wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war,
die Maurer? (…)«
    Der Chefredakteur lehnte das kritische Gedicht mit Verweis auf die angeblich teuren Druckrechte ab. Das Mitarbeiter-Blatt war nur ein Feigenblatt, das die Unzufriedenheit der Belegschaft verdecken sollte. Jedem Geschäftspartner oder Kunden, der nicht schnell in Deckung ging, wurde ein Exemplar in die Hand gedrückt. Die Mitarbeiter, eigentlich Zeugen der Anklage, wurden als Zeugen der Verteidigung missbraucht.
    Nach der dritten Ausgabe waren alle halbwegs kritischen Köpfe aus der Redaktion abgesprungen. Der Pressesprecher hatte nun freie Bahn für seine Propaganda. Die Resonanz der Leser wurde immer am ersten Mittwoch im Quartal sichtbar, wenn das Blatt in der Firma verteilt wurde: Die Papierkörbe waren schon mittags überfüllt; die Putzfrauen jammerten immer.
    Alle Blendemanöver der Firmen funktionieren nach außen, ­gegenüber Kunden, Zeitungsredakteuren, Aktionären. Aber der Scheinwerfer eines Autos kann nur andere Autos blenden, niemals die eigenen Insassen. Die Mitarbeiter sind Beifahrer – sie durchschauen den Schwindel.
    Â§ 1 Irrenhaus-Ordnung: Der Inhalt einer Mitarbeiterzeitung hat mit der Meinung der Mitarbeiter so viel zu tun wie der Inhalt einer Hühnersuppe mit den Interessen der Hühner.

Irrenhaus-Sprechstunde 1
    Wer erlebt aus nächster Nähe, welche Blüten der Irrsinn in den Firmen treibt? Wer ist live dabei, wenn Chefs aus der Haut und Unternehmen an die Wand fahren? Die Mitarbeiter! Dieses Buch gibt ihnen eine Stimme: Zweimal pro Kapitel, in der »Irrenhaus-Sprechstunde«, erzählen sie ihre ganz persönlichen Wahnsinns-Erlebnisse mit
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