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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus
Autoren: Martin Wehrle
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Firmen. Diese Geschichten bieten interessante Einblicke ins Innerste des Irrsinns, Stoff zum Lachen, Kopfschütteln und Aufregen. Zusammen ergeben diese Berichte ein scharfes Unsitten-Gemälde der deutschen Firmenlandschaft.
    Betr.: Wie mich meine Firma fast
in die Luft gesprengt hätte
    Eines Tages saß ich mit meinem Mann am Frühstückstisch. Ich war gerade dabei, mir ein Brot zu schmieren, da blickte er aus seiner Zeitung auf. »Sag mal, Schatz, warum hast du mir davon nichts erzählt?«
    Â»Davon?«, fragte ich.
    Â»Na von dem Theater, das gestern bei euch los gewesen sein muss.«
    Â»Theater?«
    Er sah streng über den Rand seiner Brille: »Jetzt erzähl mir aber nicht, dass ihr davon nichts mitbekommen habt! Du willst mich schonen, stimmt’s?«
    Ich war neugierig und schnappte mir die Zeitung. Was ich dort im Lokalteil las, ließ mir das Blut gefrieren: Am Vortag hatte es – wie hier in einer Meldung stand – »eine Bombendrohung« gegen die Niederlassung unseres großen Telekommunikationskonzerns gegeben. Diese habe sich »als Scherz herausgestellt«. Denn um 13.30 Uhr sei, entgegen der Ankündigung, keine Bombe explodiert.
    Um 13.30 hatte ich an meinem Schreibtisch gesessen. Wie meine Kollegen auch. Kein einziges Stockwerk war geräumt, kein einziger Abteilungsleiter informiert worden. Offenbar hatte man sich darauf verlassen, dass die Bombendrohung ein Scherz war.
    Was hätte der Konzern zu verlieren gehabt, wenn man das Gebäude geräumt hätte? Ein paar tausend Arbeitsstunden! Und was hat er riskiert, indem er nicht räumte? Ein paar tausend Menschenleben!
    Die Firma hatte Russisches Roulette mit meinem Leben gespielt, offenbar aus Profitsucht. Auch wenn die Bombe nicht hochging: Mein Glaube an die Menschlichkeit meiner Firma wurde endgültig gesprengt.
    Lisa Seidel 6 , Kundenberaterin
    Betr.: Wie ich zu einem kastrierten Taschendieb wurde
    Bis vor einigen Jahren war es mir freigestellt, welche Kleidung ich als Handwerker im Warenlager meines Konzerns trug. Dann wuchs das Misstrauen: Beim Verlassen der Firma wurden meine Kollegen und ich immer öfter durchsucht. Offenbar verschwanden Waren. Wir wussten auch, wohin: Leitende Mitarbeiter tauchten immer wieder bei uns auf, um sich »Muster« zu holen. Vieles kam nie zurück. Aber die raffgierigen Diebe, das mussten natürlich wir sein!
    Und so wurde uns eine einheitliche Dienstkleidung verordnet. Als ich sie sah, verschlug es mir die Sprache: Der helle Stoff erinnerte an Sträflings-Kleidung und war so dünn, dass man, wenn eine Kollegin auf der Leiter stand, Dinge sah, die man vielleicht sehen wollte, aber keinesfalls sehen sollte – zum Beispiel die Farbe ihrer Unterwäsche. Die Kleidung wurde vom Licht durchschienen; das war mehr als peinlich.
    Doch ein anderer Mangel erzürnte uns noch mehr: Wir ­hatten Jacken und Hosen ohne Taschen bekommen. Sind Sie schon mal auf eine Leiter geklettert, um mit Zollstock, Bohrmaschine, Schrauben und Wasserwaage zu arbeiten? Wie im Schlaf steckt man sich Werkzeuge und Zubehör in die Taschen, um die Hände frei zu haben und die Balance zu halten. Das ging mit der neuen Kleidung nicht mehr. Man geriet auf den Leitern ins Schwanken, ließ Dinge fallen und hatte auch am Boden nie das dabei, was man für seine Arbeit brauchte. Ein Kollege, der regelmäßig Tabletten nehmen muss, verschwand immer wieder in den Aufenthaltsraum.
    Die Geschäftsleitung hatte uns diskreditiert. Wir waren Män ner und Frauen ohne Taschen geworden. Ein Kollege spitzte es zu auf die Formel: »Wir sind kastrierte Taschendiebe!« Zudem war unsere Arbeit gefährlicher und komplizierter geworden.
    Wenige Monate später kam durch einen Medienbericht her­aus: Mehrere Top-Manager unseres Konzerns hatten im großen Stil Aktien verkauft, als sie witterten, dass sich eine Auslieferung verzögern würde.
    Diese »Insider-Geschäfte« riefen den Staatsanwalt auf den Plan. Der Aktienkurs brach ein, die Firma verlor Riesensummen.
    War das nicht der eigentliche Diebstahl? Diese Herren gingen mit vollen Taschen aus dem Haus. Wie gerne hätte ich ihnen meine Kleidung angeboten!
    Jürgen Wolff, Handwerker
    Betr.: Warum man als Kranker niemals
einen Massagegutschein bekommt
    Â»Wir wollen unseren Mitarbeitern den Rücken stärken«: Mit dieser Parole spielt sich unser Konzern zum Schutzpatron seiner
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