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Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens

Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens

Titel: Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Autoren: Sarah Beth Durst
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konnte den Umriss seiner Schnauze und die Rundung seiner Schultern erkennen. »Cassandra Dasent«, sagte er, seine Stimme ein sanftes Grollen.
    Ihr Herz setzte aus.
    Er sprach.
    Sie schnappte nach Luft, ihr schwindelte. Der Bär hatte ihren Namen gesagt. Ganz sicher. Sie hatte es genau gehört. Er hatte ihren Namen gesagt. Aber echte Eisbären sprachen nicht. Sie konnten es nicht. Ihre Schnauze war nicht dafür geschaffen.
    »Ich werde dir nicht wehtun«, sagte der Bär.
    Er hatte nicht die richtigen Stimmbänder. Er konnte die Schnauze nicht bewegen wie ein Mensch seine Lippen. Seine Zunge konnte keine Wörter formen. »Eisbären sprechen nicht«, sagte sie rundheraus. »Du bist nicht real.«
    »Hab keine Angst«, sagte der Bär. Er trat in den Lichtzirkel hinein, den die Stationslampen bildeten. Automatisch machte sie einen Schritt rückwärts. Ihr Herz begann immer schneller zu pochen, während er auf sie zukam. Seine Tritte waren auf dem Eis nicht zu hören.
    »Wach auf«, flüsterte sie zu sich selbst. »Schluss damit!« In ihren Handschuhen bohrte sich Cassie die Fingernägel in die Handballen, bis es schmerzte. Aber sie wachte nicht auf, und der Bär blieb, wo er war.
    Direkt vor ihr stoppte er. Jetzt erst wurde sie seiner enormen Größe gewahr. Seine Schultern befanden sich auf einer Höhe mit ihren, und seine Schnauze … Auf allen vieren war er genauso groß wie sie. Auge in Auge standen sie sich gegenüber. »Du bist eine Halluzination«, sagte sie. Ihre Stimme klang dünn und brüchig. »Ein Trugbild, ein Phantom.«
    »Nein. Das bin ich nicht.«
    Sie duckte sich weg, als sie seinen warmen Atem auf ihrer gefrorenen Schutzmaske spürte. Oh Gott, das hatte sich verdammt echt angefühlt! Das konnte sie sich nicht eingebildet haben. »Ich glaube nicht an sprechende Bären«, sagte sie, ihre Stimme nur mehr ein Wispern.
    »Du bist Gails Tochter«, sagte der Bär. Seine Stimme klang sanft, sogar freundlich.
    »Du bist eine wissenschaftliche Unmöglichkeit«, sagte Cassie. Das konnte nicht wahr sein, dass sie das hier wirklich sah, wirklich hörte. Es gab Gesetze im Universum, und darin war kein Platz für sprechende Bären, besonders nicht für sprechende Bären, die den Namen ihrer Mutter kannten. Sie schluckte. Niemand hatte jemals so von ihr geredet, als Tochter ihrer Mutter.
    »Du hast mich gerufen«, sagte der Bär. Immer noch sanft, doch auch unnachgiebig. »Ich beobachte dich schon seit langer Zeit. Ich habe gewartet, bis du kein Kind mehr warst, bis du von mir wusstest. Vor ein paar Stunden kanntest du mich noch nicht, aber jetzt hast du mich gerufen. Deine Familie hat dir gesagt, wer ich bin?« Das war eine Frage. Fast hätte sie diese in dem langsamen Rhythmus seiner Stimme überhört.
    »Sie haben mir Märchen erzählt«, sagte sie und dachte an Gram.
    Es war einmal vor langer, langer Zeit, da sagte der Nordwind zum König der Eisbären … Märchen und Lügen. Doch welches war die Lüge?
    »Glaube sie, Geliebte!«
    Geliebte ?
    »Nein«, sagte sie. Nein, sie würde sich das nicht länger anhören. Sie würde nichts davon glauben. Denn das würde bedeuten, Dad hätte sie angelogen. Es würde bedeuten, ihre Mutter hätte sie verschachert, noch bevor sie überhaupt geboren war.
    Es zu glauben bedeutete aber auch, ihre Mutter war nicht umgekommen in dem Sturm, der in Barrow, Alaska, Häuser dem Erdboden gleichgemacht und halb Prudhoe Bay unter sich begraben hatte.
    »Dann glaube eben deiner Familie nicht, doch traue wenigstens deinen eigenen Augen und Ohren.«
    Ihre Augen sagten ihr, dass es sich bei ihm um einen Ursus maritimus handelte, einen Eisbären; ihre Ohren sagten ihr, dass er sprach. Cassie kniff die Augen fest zusammen. »Du existierst nicht.« Das war Selbstbetrug. Ihre Sinne spiegelten ihr etwas vor und ließen sie etwas glauben, das sie schon seit mehr als zehn Jahren nicht mehr glaubte: dass ihre Mutter noch lebte. Cassie öffnete die Augen. Der Bär war immer noch da.
    »Ich bin dieser Eisbär«, sagte er, »Und du bist meine Braut.«
    »Nein«, sagte sie – Nein zu ihm, Nein zu dem, was hier vorging, Nein zu allem.
    Sein Gesichtsausdruck schien unergründlich. »Deine Mutter hat es versprochen.«
    Das war grausam. Einfach nur grausam. »Meine Mutter ist tot. Sie kam in einem Schneesturm um, kurz nach meiner Geburt.« Cassie spürte, wie sich bei diesen Worten ihr Herz verkrampfte.
    Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille. Schnee umwirbelte sie beide – Cassie und den riesigen
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