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Hybrid

Titel: Hybrid
Autoren: Andreas Wilhelm
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nicht, stimmt. Und die Agentur kenne ich auch nicht. Im Programmkino ist ein tschechischer Kunstfilm mit finnischen Untertiteln ausgefallen, also wusste ich nicht, was ich sonst tun sollte.«
    Ben zögerte. »Das meinst du jetzt nicht ernst.«
    Juli sah ihn ausdruckslos an. »Meine ich nicht?«
    Abermals stockte er. Dann sah er, wie Juli zwinkerte und grinste. »Nein, meinst du nicht!«
    »Stimmt«, gab sie zu. Es folgte eine Pause. Dann setzte sie nach: »Es waren slowakische Untertitel.«
    Nun lachte Ben auf, und so hatten sie sich kennengelernt.
    In den folgenden Monaten waren sie in losem Kontakt geblieben und hatten sich immer mal wieder getroffen und sogar das eine oder andere Mal verabredet. Niemals allein, so weit ging die Freundschaft nicht, aber wenn sich eine kleine Gruppe fand, die im Stadtpark grillen wollte oder sich ein paar Kajaks für die Fleete auslieh, rief er sie an, und manchmal kam sie mit.
    Ganz schlau war er nie aus ihr geworden. Er stellte nur fest, dass sie ebenso intelligent wie kritisch und äußerst zielstrebig war und auf lose Beziehungen und oberflächliche Freundschaften wenig Wert legte. Er hatte sich schnell eingestanden, dass sie ihm in ihrer Art überlegen und irgendwie eine Nummer zu groß war. Was sie suchte oder gebraucht hätte, war nichts, das er ihr bieten könnte, obwohl sie nur wenig älter war als er selbst, sechsundzwanzig höchstens. Er schätzte sie als Person, und wenn er ehrlich war, war sie die einzige Frau in seinem Bekanntenkreis, mit der er nicht verwandt war und die er trotzdem nie ins Bett bekommen wollte. Nun hatte er seit langer Zeit nichts mehr von ihr gehört, und als er sie im Café sitzen sah, musste er sie begrüßen.
    »Hey, Juli. Wie geht’s?«
    Sie schreckte auf. »Hi.«
    »Arbeit für die Uni?«
    Sie klappte das Notizbuch zu. »Nein, eigentlich nicht.«
    Ben deutete hinter sich. »Wir sitzen dahinten, willst du nicht zu uns kommen?«
    »Danke, aber heute nicht.«
    »Ich habe lange nichts mehr von dir gehört«, sagte er, setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. »Ich dachte schon, du bist gar nicht mehr in Hamburg.«
    »Doch, bin ich. Aber ich bin die meiste Zeit am UKE .«
    Er nickte.
    »Wie sieht’s denn am Wochenende aus, hast du vielleicht mal Lust, mitzukommen, wenn etwas läuft?«
    »Ehrlich gesagt … vermutlich nicht.«
    »Ist was los?«
    »Nein, ich habe im Moment nur wirklich keinen Kopf für Ablenkungen. Tut mir leid.«
    Er zuckte mit den Schultern. Da war nichts zu machen. Sie zu überreden, würde nicht gelingen, und im Grunde wollte er ihr auch nicht hinterherlaufen.
    »Darf ich?«, fragte er und streckte seine Hand nach ihrem Stift aus. Er schrieb seine Telefonnummer auf ein Streichholzbriefchen aus seiner Tasche. »Wenn du mal wieder Lust hast, kannst du ja anrufen, okay?«
    Sie nahm das Briefchen und den Stift entgegen. »Alles klar, ich werde dran denken.«
    Ben stand auf. »Gut, ich gehe dann mal wieder zu meinen Leuten. Mach’s gut und lass dich nicht stressen.«
    »In Ordnung. Bis dann.«
    Als Ben gegangen war, sah Juli ihm nur kurz hinterher. Dann schloss sie die Augen und suchte Anschluss an die Gedanken, die sie zuvor beschäftigt hatten. Tatsächlich wünschte sie nichts lieber, als sich den unbeschwerten Studentenvergnügungen hingeben zu können. Ben war ein netter Kerl, und die meisten Leute, mit denen er seine Zeit verbrachte, waren halbwegs vernünftig und nicht allzu simpel gestrickt. Aber nicht nur war ihr Studium anspruchsvoller geworden, auch hatten sich die Sorgen der letzten Wochen wie eine alles erstickende Decke um sie gelegt. Die praktische Arbeit im Krankenhaus half ihr zwar, einen geregelten Tagesablauf einzuhalten und sich zu konzentrieren, aber in den Zeiten dazwischen fühlte sie sich haltlos. Sie schlafwandelte durch den Tag, ihre Gedanken kreisten immer wieder um Maries Briefe, ihre Begeisterung, ihre Gedanken, Ideen, Erlebnisse und schließlich ihr entsetzliches Schweigen. Die Behörden, die Kollegen und auch ihre Eltern beruhigten sie, aber Juli fühlte, dass etwas nicht stimmte. Die besondere Verbindung zu ihrer Schwester war gekappt. Und es schien nichts zu geben, das sie tun konnte.
    Juli blickte ziellos umher, bis ihr eine Tageszeitung ins Auge fiel, die jemand auf dem Tisch neben ihr liegen gelassen hatte. Sie nahm sie an sich und blätterte hindurch. Das Tagesgeschehen der Stadt ließ sie unberührt, ebenso wie die internationalen Meldungen über Krisenherde und politische Gespräche.
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