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Hybrid

Titel: Hybrid
Autoren: Andreas Wilhelm
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flüssiger Spiegel. Tom und Juli standen am Bug des Bootes und sahen nach vorn, beobachteten, wie sich die unzähligen Biegungen des Flusses vor ihnen entfalteten und an ihnen vorbeizogen. Mit ihnen im Boot fuhren drei medizinische Studenten, ein Kameramann und ein technischer Assistent. Das Boot war voll beladen mit Werkzeugen, medizinischer Ausrüstung und Medikamenten. In der nächsten Woche würde ein weiteres Schiff folgen und einen Stromgenerator und mehrere Hundert Liter Diesel liefern.
    »Es ist schön, wieder hier zu sein«, sagte Juli.
    »Merkwürdig, wenn man sich vorstellt, wie schnell sich das eigene Leben ändern kann. Ich hätte mir das hier nie zu träumen gewagt.«
    »Nicht nur das Leben ändert sich. Es ändert auch uns.«
    »Ja, das stimmt wohl …«
    Sie schwiegen eine Weile. Juli lehnte ihren Kopf an Toms Schulter.
    »Was wird wohl aus Villiers?«, sagte sie dann. Sie dachte zurück an die letzten Wochen. Der Skandal war in Hamburg eingeschlagen wie eine Bombe. Die Zeitungen des ganzen Landes hatten sich auf die Story gestürzt, im Fernsehen wurde der Fall ausgebreitet, Tom und Juli wurden fast täglich als Interviewgäste oder als Teilnehmer zu Podiumsdiskussionen eingeladen. Man hatte ihnen viel Geld für die Rechte an einer dramatisierten Verfilmung der Recherchen angeboten. Der Hamburger Innensenator war zurückgetreten, und die Partei des Ersten Bürgermeisters war zerstritten über das weitere Vorgehen, während die ersten Gerichtsverfahren vorbereitet wurden. In einem jedoch hatte der korrupte Hauptkommissar Berger recht behalten: Der Konzern um Medi-Capital Invest und Dr. Villiers war bisher verhältnismäßig unberührt geblieben. Als Besitzer der Hamburger Krankenhäuser schien das Firmenimperium hohe Trümpfe in der Hand zu haben. Wenngleich das Mitwissen und die Verstrickungen durch die von Tom kopierten Unterlagen belegbar waren und von der Presse ausgewalzt wurden, blieben sie gesetzlich ungültig, und der Konzern hatte ein leichtes Spiel, mögliche Verantwortungen in seinem nahezu undurchdringlichen Netzwerk aus Firmenstrukturen und Besitzverhältnissen ungreifbar zu machen.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Tom. »Vielleicht wird es Jahre dauern, bis das Ganze vor Gericht kommen und dort standhalten kann. Letztlich wird irgendeine Anklage erhoben werden müssen, damit sich wirklich etwas bewegt. Aber wer sollte diese Anklage führen? So, wie ich es sehe, konnten wir dem Ansehen der Firma schaden und vielleicht ein wenig finanziellen Schaden verursachen, die Öffentlichkeit ist aufmerksam geworden, aber mehr erst einmal nicht. Es bleibt an uns, ob wir die Rolle übernehmen, die uns vielleicht zugedacht ist.«
    »Was meinst du damit?«
    »Anwalt der Geschädigten zu sein.« Tom sah Juli an. »Und das meine ich über eine Berichterstattung hinaus.«
    Juli kniff die Augen zusammen. »Du meinst …«
    »Wir können dafür sorgen, dass im Namen aller Betroffenen eine Klage erhoben wird. Wir fordern Entschädigung für alle Taten, die Entführungen, die medizinischen Experimente, die Verstümmelungen, die vielen Toten und allen Schaden, der vielleicht noch über Generationen in diesen Indios weitervererbt wird.«
    »Wie Erin Brockovich …«
    »Ja oder wie im Contergan-Skandal.«
    Juli atmete tief ein. »Das ist ein ambitionierter Plan …«
    »Ja«, sagte Tom, »das ist er. Aber wenn wir es nicht tun, wer dann?«
    Juli lächelte. »Das ist es, was ich meinte, als ich sagte, unser Leben ändert uns. Du bist ein anderer Tom geworden als der, den ich kennengelernt habe.«
    »Das mag sein … Und ich fühle mich lebendiger als jemals zuvor!«
    Juli lachte auf. Dann deutete sie nach vorn. »Sieh mal!«
    In einiger Entfernung sahen sie Menschen am Wasser und schmale Kanus, die am Flussufer lagen. Ihr Boot drosselte die Fahrt. Die Besatzung kam an Deck und gesellte sich zu Tom und Juli.
    »Da ist es!«, sagte Juli. Sie ergriff Toms Hand und drückte sie, so fest sie konnte.
    Das Boot näherte sich dem Ufer und drehte sich gegen den Strom. Die Menschen am Wasser traten ein paar Schritte zurück, Rufe wurden laut.
    Der Kapitän steuerte das Boot noch näher an den Strand. Dann hieß er einen der Studenten den Anker über Bord werfen.
    Tom und Juli standen voller Anspannung an der kleinen Reling und sahen hinüber auf den kleinen Wall, an dem sich jetzt immer mehr Menschen versammelten, die aus dem nahe gelegenen Dorf geströmt kamen. Einige waren buckelig und auf Stöcke gestützt, andere humpelten
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