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Hybrid

Titel: Hybrid
Autoren: Andreas Wilhelm
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aber gewöhnen müssen, wenn du in diesem Jahrhundert noch aufstehen solltest. Ihr habt so viele Menschen gerettet, und das Dorf bereitet sich auf ein großes Fest vor, um euch zu danken.«
    »Oh«, brachte Tom hervor.
    »Und ich werde dir auch immer dankbar sein. Du hast mir meine Juli gebracht, und gemeinsam habt ihr mir das Leben gerettet.« Sie beugte sich zu Tom hinunter und küsste ihn auf die Wange. Dann legte sie ihren Mund an sein Ohr und flüsterte ihm zu: »Und was Juli angeht: Pass gut auf sie auf, und lass sie dir bloß nicht entwischen!«
    Marie richtete sich wieder auf, grinste noch einmal schelmisch und ging dann aus der Hütte. Sie rief den Umstehenden etwas zu, woraufhin sie ihr folgten und Tom und Juli allein ließen.
    »Tja, da hörst du es«, sagte Juli. »Wir haben es geschafft!«
    »Sind wirklich alle entkommen? Was ist passiert?«
    »Die meisten sind die Treppe hochgerannt und quer durch die Anlage gelaufen. Die Wachleute waren zu überrascht, um sie aufhalten zu können. Der Elektrozaun war deaktiviert. Du hattest ja den Generator kaputt gemacht, und der Notstrom war vermutlich für die Computer und medizinischen Geräte gedacht. Also haben sie den Zaun eingerissen und sind in den Wald gelaufen.«
    »Und niemand hat sie verfolgt?«
    Juli schüttelte den Kopf. »Die hatten genug anderes zu tun. Es gab einen riesigen Knall, und kurz darauf kamen Flammen aus dem Erdgeschoss. Das müsstest du vielleicht sogar noch gehört haben.«
    »Ja, durchaus. Ich war sozusagen dabei …«
    »Wirklich? Dann war das dein Werk?«
    »Reiner Zufall«, er winkte kraftlos mit seiner rechten Hand ab. »Ich erzähle es ein anderes Mal … so richtig fit bin ich, glaube ich, noch nicht …«
    »Nein, natürlich nicht. Schlaf noch ein bisschen. Ich komme ab und zu nach dir sehen, ja?«
    Tom nickte matt und schloss die Augen.
    Als Tom erwachte, dämmerte es. Wieder sah er ein Kind neben sich am Bett. Es war ein kleines Mädchen, höchstens acht Jahre alt, das gerade damit beschäftigt war, Toms Gesicht mit einer öligen Substanz einzureiben. Als er seine Augen aufgeschlagen hatte, war sie aufgeschreckt und verharrte nun in ihrer Bewegung. Ihre Oberlippe schien zu fehlen, ihre Nase war verformt, als sei der Knorpel darin zerfressen. Aus ihrer Wange sprossen schwarze Borsten. Ihr Anblick war erschreckend, und sie musste gesehen haben, dass sich Toms Augen einen Moment lang geweitet hatten. Sie zuckte zurück und senkte den Kopf. Aber Tom streckte die Hand nach ihr aus und ergriff behutsam ihren Arm.
    »Hey …«, sagte er leise, aber sie wandte sich ab.
    »Es ist okay«, sagte er. »Sieh mich an. Na komm schon. Es ist okay.«
    Von seiner sanften Stimme beruhigt, hob das Mädchen seinen Kopf und sah vorsichtig auf. Tom nahm ihre kleine Hand und legte sie auf sein Gesicht, dort, wo es noch immer geschwollen war. Dann streckte er seine eigene Hand nach ihrem Gesicht aus. Er zögerte für einen winzigen Augenblick, aber er wollte die Bewegung nicht mehr unterbrechen. Seine Finger legten sich behutsam auf die missgestaltete Wange des Kindes, er fühlte die Borsten in seiner Handfläche. Aber er spürte auch, wie warm die Haut war, wie lebendig. Er strich mit seinem Daumen über ihre Augenbraue. Nach einem Moment drückte die Kleine ihren Kopf in Toms Hand, und als hätte diese Geste einen Schleier zerrissen, erkannte er mit einem Mal die Verletzlichkeit und Schönheit ihres Wesens. Er musste lächeln, und als sie sein Lächeln erwiderte und er sah, wie ihre Augen zu strahlen begannen, brach er unvermittelt in Lachen aus. Er lachte vor Freude und vor Erleichterung, bis Tränen in seine Augenwinkel traten, und das Mädchen lachte mit.
    Tom trat aus der Hütte. Er hatte seine Hose an einer Stange hinter seinem Schlafplatz gefunden, und auch wenn sie voller getrockneter Blutflecken war, wollte er doch nicht in der Unterhose vor die Hütte treten.
    So stand er nun mit nacktem Oberkörper draußen auf der schmalen Terrasse. Im Wasser des Flusses, den er von hier aus in einiger Entfernung sehen konnte, spiegelte sich der Himmel, den der Sonnenuntergang in einen unwirklich bunten Verlauf aus Dunkelblau, Hellblau, Rosa und Orangerot verwandelt hatte, besetzt mit winzigen Diamantsplittern einzelner Sterne. Der Fluss zog sich wie bunt schillernde Seide durch die Landschaft. Das Ufer war nicht zu sehen, denn es befand sich hinter einer kleinen Anhöhe. Das Dorf war auf einem Streifen mit niedriger Vegetation angelegt, zwischen dem Fluss
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