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Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Titel: Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
Autoren: Hansjörg Schneider
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herumstreiten, warum sollen wir uns dann noch im Urlaub auf die Nerven gehen?«
    »Einmal, nur einmal«, bat sie, »das wäre mein heißer Wunsch. Wir werden uns nicht auf die Nerven gehen, sondern ich werde mich verflüchtigen ins Meer.«
    »Du meinst die See.«
    »Gut, meinetwegen. Ich werde in die See abtauchen.«
    »Dort liegt schon einer«, sagte er. »Ausgestreckt, kalt. Ein Stück Fleisch. Die Fische fressen seine Rippen kahl, das kühle Gebein. Das wäre doch etwas, wie? Das wäre eine Wasserbestattung. Zurück in die Mutter, aus der wir alle gekommen sind.«
    »Ich denke, du willst nicht mehr vom Tod reden?«
    »Ein letztes Mal. Ein letztes Salt Peanuts. Und Schluss.«
    Er öffnete die Flasche, die ihm Christine gebracht hatte. Ein trockener Knall, dann schäumte das Bier ins Glas.
    Am andern Mittag bestieg er im Französischen Bahnhof den Train rapide nach Paris. Ein schöner, schlanker Zug, Zweite Klasse, er hatte ein Abteil für sich. Er entnahm seiner Tasche das rote Heft, setzte den Kugelschreiber an und schrieb: »Ich fahre in die wunderbare, große Stadt Paris, ohne richtig zu wissen, warum. Vielleicht deshalb, weil sie mir in meiner Jugend das Leben gerettet hat. Was dem einen die See, ist dem andern Paris. Das ist gehupft wie gesprungen. Beides ist besser als der Tod im Wasser.«
    Er hielt ein, nagte am Kugelschreiber und fügte hinzu: »Das gilt für die Jugendzeit. Im Alter gelten andere Gesetze.«
    Befriedigt, mit einem kurzen Grinsen, aber das war nur ein Hauch, der über sein Gesicht glitt, versorgte er das Heft in der Tasche, legte seinen Kopf darauf und schlief sogleich ein.
    Als er erwachte, lag draußen rechter Hand ein Kanal. Stilles Wasser, dunkel hingebettet zwischen den Böschungen. Gelbe Schwertlilien, Schilf, hin und wieder saß ein Fischer am Ufer. Vor einer Schleuse lag eine Péniche, wartend, bis das schwarze Eisentor sich öffnen würde. Eine Frau stand auf Deck, ein rotes Hemd zur Wäscheleine hochstreckend. Dann raste der Zug in einen Tunnel hinein.
    Kurz nach Vesoul nahm er das blaue Heft aus der Tasche und ging nach vorn in die Bar Corail. Er bestellte einen Croque Monsieur und Kaffee. Ein Liebespaar saß in einer Ecke, unglaublich jung, beide trugen Jeans mit hineingerissenen Löchern, das machte sich offenbar besser so. Sie hatte den Kopf an seine Schulter gelegt, beide schliefen.
    Er setzte sich behutsam, er wollte nicht stören. Er aß und trank. Zartgeschmolzener Käse, feingeschnittener Schinken zwischen geröstetem Brot, bitterer Kaffee. Süße Frühe der Jugend.
    Er zündete sich eine an, zog den Rauch ein, unterdrückte das Husten. Er würde mit Sicherheit aufhören zu rauchen, bald. Aber nicht jetzt, nicht in diesem Zug.
    Er öffnete das blaue Heft und las, was Freddy Lerch unter dem Titel ERFAHRUNG UND AUSBLICK notiert hatte.
    »Überdenke ich mein nun fast schon acht Jahrzehnte dauerndes Leben, erfasst mich eine stille Wehmut. Was für Anstrengungen, was für Kämpfe, was für Duldsamkeiten. Wie vergeblich scheint das alles gewesen zu sein. Besonders wenn ich an meine Mutter denke. Was für ein opferbereites Frauenleben. Arbeit den ganzen Tag jahraus jahrein bis in die tiefe Nacht hinein, Sorgen und Not in Hülle und Fülle. Und fast keine Zeit und Gelegenheit zur Herzensgüte, zum Liebesbeweis. Und als Dank das Unverständnis der Dorfgewaltigen, die ihren jüngsten Sohn von der Schule wiesen. Das hat ihr das Herz gebrochen. Das war ein Markstein in meinem Leben.
    Sie war stets mein Vorbild in guten und bösen Tagen. Der Leuchtturm, der mir die Richtung angab. Denn welche Kraft hat in dieser kleinen Person gesteckt, welche Herzensgüte und Intelligenz. Sie hat nie aufgegeben. Und sie hat alle Schwierigkeiten gemeistert. Aus allen vieren von uns ist etwas Rechtes geworden.
    Von ihr habe ich gelernt, mich zu wehren. Mit Haut und Haar. Sie hat zwar nie darüber geredet. Große Worte waren ihr unbekannt. Sie hat mich durch ihr tätiges Beispiel belehrt. Als ich damals jenen üblen Lehrer an die Wand gedrückt habe, war sie mir deswegen nicht böse. Sie hat kein Wort darüber verloren, aber ich merkte, dass sie mir innerlich recht gab. Denn was ihr im tiefsten Herzen verhasst war, das war das Unrecht, besonders gegen die Armen.
    So hat mich immer die Gerechtigkeit geführt. Ich weiß allerdings, dass es hienieden keine richtige Gerechtigkeit geben kann. Die Welt ist nicht so eingerichtet. Aber versuchen sollte man es doch in jeder Lage, in der man sich befindet,
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