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Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Titel: Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
Autoren: Hansjörg Schneider
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darauf los, packten die Brocken, versuchten sie zu verschlingen. Auf dem Rost drüben, wo die um diese Zeit noch leeren Pritschen lagen, stand Werner, der dunkelbraun gebrannte Rentner, in prallen Badehosen seine immer noch jugendlich wirkende Figur präsentierend, und schaute herüber. Offensichtlich überlegte er, herzukommen auf Handbreite und zu reden, über den Unglücksfall von gestern, über Gott und die Welt und die Wassertemperatur. Aber er getraute sich nicht, Hunkeler war ihm gestern zu schroff gekommen.
    Dann trat André heran. Er setzte sich ohne zu zögern auf die Bank nebenan, er schaute missmutig aufs Wasser hinaus, offenbar hatte er etwas auf Lager.
    »Ich habe angerufen«, sagte er, »die wissen nichts von einem ertrunkenen Mann.«
    »Wo hast du angerufen?«
    »Im Kantonsspital«, sagte André und spickte die Zigarettenkippe ins Wasser, wo eine Ente draufloshuschte, den Stummel packte und wieder losließ.
    »Die geben dir doch keine Auskunft. Du weißt ja nicht einmal seinen Namen.«
    »Ich habe eine Bekannte«, sagte André, »die ist Oberschwester. Die arbeitet auf der Geriatrie. Die hat nichts gewusst.«
    »Ach was. Geriatrie, das ist Unsinn. So einer kommt doch nicht auf die Geriatrie.«
    »Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan«, sagte André und schaute Hunkeler direkt ins Gesicht, in den Augen ein rötlicher Schimmer. »Ich mache mir Vorwürfe. Warum hocken wir denn jeden Morgen da, wenn wir nicht einmal einen alten Mann herausholen können?«
    »Hör auf, ja?« Hunkeler schrie es fast, so wütend war er plötzlich. »Ich will jetzt allein sein, verstehst du? Allein!«
    Am Nachmittag gegen fünfzehn Uhr hielt er es nicht mehr aus. Er war, nachdem er ein zweites Mal den Bach hinabgeschwommen war, nach Hause gegangen, hatte sich aufs Bett gelegt und eingerollt und war sogleich weggetaucht. Als er erwacht war – wiederum kam er, wie ihm schien, aus einem tiefen, ihm unbekannten Schacht –, stieg er auf die Straße hinunter, ging durch die Mittagshitze die paar Meter zur Wirtschaft Sommereck an der Ecke vorn, setzte sich in den Garten und bestellte einen Wurstsalat und ein Mineralwasser. Hier war es merklich kühler als draußen auf dem Asphalt, die Kastanienbäume dämpften das Licht zum Dämmer. Es waren die üblichen Gäste da, Handwerker vor allem und Geschäftsleute. Einige kannte er. Aber er hatte sich nicht zu ihnen gesetzt, er wollte nicht reden.
    Die Wand des Nachbarhauses war bemalt mit einer zwölf Meter breiten Ansicht des Urnersees, mit Wasser und Wald, das Rütli war zu sehen und der Urirotstock. Ein See zum Hineinspringen, zum Hinabtauchen, zum endgültigen Verschwinden.
    Er aß, er trank, es schmeckte ihm nicht. Er saß da, unzufrieden, dumpf brütend, er wartete auf einen Entschluss. Es fiel ihm ein, dass er den Leichnam seines Vaters nicht gesehen hatte. Er war zu spät ins Krankenhaus gekommen, erst 24 Stunden nach dem Eintritt des Todes. Der Arzt, den er hatte kommen lassen, hatte ihm erklärt, es sei ohne weiteres möglich, die Leiche zur Besichtigung zu präsentieren. Nur müsse man sie aus dem Kühlfach holen. Aber wenn er sie unbedingt sehen wolle, um von ihr Abschied zu nehmen, sei das durchaus zu machen.
    Er hatte abgewunken. Und drei Tage später hatte er zugeschaut, wie ein lächerlicher Tontopf, in dem alles Mögliche sein mochte, nur nicht sein Vater, in die Erde versenkt worden war.
    Er blieb über eine Stunde in der Wirtschaft sitzen, bis er nicht mehr anders konnte und dem Entschluss, den er schon längst gefasst hatte, nachgab. Er bezahlte, trat auf die Straße hinaus, ging am Brunnen auf der Kreuzung vorbei, höflich die drei alten Frauen grüßend, die dort in farbigen Sommerkleidern auf der Bank saßen. Er wanderte durch die lange, menschenleere Gasse, durch die einige Autos fuhren und sirrend ihre Reifen in den von der Hitze weichen Asphalt drehten, zweigte bei der Universitätsbibliothek nach links ab und erreichte das Kantonsspital. Ein Neubau, in den sechziger Jahren mit allen Schikanen gebaut, viel zu groß und zu teuer konzipiert in der Zeit des unbegrenzten Wachstumsglaubens.
    Er brauchte anderthalb Stunden, bis er dort war, wo er sein wollte. Schon die Empfangsdame in der kühlen Halle – hinter riesigen Glasscheiben tropfte Wasser, wuchsen tropisch anmutende Pflanzen – versuchte, ihn abzuwimmeln. Nein, sagte sie, ein Patient namens Freddy Lerch sei nicht hier. Warum er ihn denn sehen wolle, wer er sei? – Ein guter Bekannter des Herrn
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