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Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Titel: Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
Autoren: Hansjörg Schneider
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Sprung von der Brücke.
    Vor Jahren, das kam ihm jetzt unaufhaltsam in den Sinn, vor Jahrzehnten war er über den Rhein gegangen neben einem Mädchen, das ihm soeben gesagt hatte, dass sie ihn nicht liebe. In jungen Jahren war das gewesen, dort oben auf der Mittleren Brücke, über die träge der Verkehr rollte. Er hatte das zur Kenntnis genommen, sachlich und kühl, er hatte es schon lange gewusst. Er war an das steinerne Geländer getreten, flussabwärts war es, und hatte ins Wasser geschaut. Soll ich oder soll ich nicht?, hatte er sich gefragt, und schon hatte er den Moment, den endgültigen Augenblick des Absprungs verpasst.
    Merkwürdig, was ihm alles in den Sinn kam seit gestern, als er den alten Mann fallen gesehen hatte. Eine gute Erinnerung, die vom Mädchen und der Brücke. Und im Grunde dumm. Denn selbstverständlich wäre er nicht ertrunken, er wäre wieder aufgetaucht und wohl oder übel ans Ufer geschwommen. So leicht entkommt man diesem Leben nicht.
    Er schaute zu, wie der Fährmann das Drahtseil auf die rechte Seite legte, nach hinten ging und das Steuerruder gegen die Strömung stellte. Das Seil spannte sich, die Rolle oben fing an zu laufen. Das Schiff glitt über das Wasser, kräftig und schön.
    Drüben stieg er aus und ging flussaufwärts. Er kam an einem jungen Mann vorbei, der auf einer Treppenstufe saß und sich an einer Folie zu schaffen machte, entschlossen und konzentriert. Er zündete ein Streichholz an, hielt die Flamme darunter, beugte sich vor und schnüffelte. Hunkeler war stehen geblieben und hatte zugeschaut, hilflos bereit zu einem Gespräch übers Wetter oder so, was der junge Mann überhaupt nicht zur Kenntnis nahm.
    Beim Hotel Krafft stieg er zum Wasser hinunter. Er wusste, dass er vorsichtig sein musste, denn oben auf der Straße war der Treffpunkt der Szene, und niemand konnte sicher sein, ob nicht eine gebrauchte Spritze im Wasser lag, kaum sichtbar zwischen den Kieseln. Er hatte zwar noch nie eine gesehen, und im Grunde vertraute er auf die Vernunft des fixenden Volkes.
    Jetzt stand er bis zu den Knien im Fluss, die nasse Kühle an den Füßen, die vertäuten Weidlinge vor sich, drüben die Großbasler Front, die sich gewaschen hatte – das musste er neidlos zugeben –, rechts die Mittlere Brücke, links das rote Münster. Er wartete, bis ein leerer Tanker vorbeigefahren war, dann sprang er hinein.
    Und wieder packte ihn das kurze Erschrecken vor dem Unbekannten, das Staunen über den fast fugenlosen Übergang vom Vertrauten ins Unvertraute, die Freude über die plötzliche Kühle, über das Aufgehobensein in der Schwebe, im Fließen. Er behielt den Kopf möglichst lange unter Wasser, die Kraft des Absprungs ausnützend, er öffnete die Augen und sah trübe Steine vorbeigleiten. Dann hob er den Kopf, er musste aufpassen auf die Ketten, an denen die Weidlinge hingen.
    Er schwamm unter dem zweiten Brückenbogen durch, auf dem Rücken treibend, Blick nach oben, Ohren im Wasser, er hörte das Sirren des bachab schwimmenden Tankers, das Geschiebe der Kiesel auf dem Grund. Ein Baumstamm war er, fast leblos, der dem Meer entgegentrieb.
    »Und?«, fragte Frau Lang, als er sich beim Kiosk des Badehauses Kaffee einschenkte, »haben Sie etwas gehört?«
    »Was gehört?«
    »Von dem Mann, der gestern von der Brücke gesprungen ist.«
    Er goss sich Milch in die Tasse. »Das ist nicht mein Fall. Ich habe Urlaub.«
    Er trug die Tasse zum Tisch, setzte sich, Füße auf der Bank, Rücken am Holz, die Morgensonne auf dem Bauch. Er grinste. Das wäre noch schöner, wenn er sogar noch im Urlaub irgendwelchen Möchtegernselbstmördern nachrennen würde. Was stellten sich die Leute überhaupt vor? War er das Gewissen der Nation, trug er vielleicht sogar die Verantwortung für einen alten Mann namens Lerch, der aus unbekannten Gründen ins Wasser gesprungen war? Nein, er war ein simpler Beamter des Kriminalkommissariats, müde, abgestumpft vom Elend, das er in rund dreißig Jahren Polizeidienst gesehen hatte. Er hatte das wohlverdiente Recht, auszuspannen und sich von der Morgensonne bescheinen zu lassen.
    Draußen fuhr der mit Kies beladene Frachter, der Kies-Ueli, flussaufwärts. So war das eben. Die Strömung schob den Kies während Jahrzehnten und Jahrhunderten und Jahrtausenden Millimeter um Millimeter flussabwärts Richtung Meer. Und der Kies-Ueli schob ihn dann wieder flussaufwärts.
    Frau Lang stand an der Brüstung vor dem Kiosk und warf Brotstücke hinunter. Die jungen Enten paddelten
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