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Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Titel: Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
Autoren: Hansjörg Schneider
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sagte sie, »dass du nie über den Tod deines Vaters hinausgekommen bist. Und übrigens auch nicht über den Tod deiner Mutter. Du hast mir jedenfalls nie ein Wort darüber gesagt. Deine Mutter ist doch auch nicht auf eine normale Art gestorben. Oder wie war das?«
    Er fühlte eine Hitze in sich aufsteigen, bis hinauf in den Kopf.
    »Was heißt hier normal?«
    »Die meisten Menschen sterben, weil sie nicht mehr leben können, weil in ihrem Körper irgendetwas kaputt ist. Andere sterben, weil sie nicht mehr leben wollen.«
    »Der Tod meiner Mutter gehört mir. Darüber rede ich nicht.«
    Sie lehnte sich zurück, legte sich das Haar in den Nacken. »Siehst du. Du willst einfach nicht.«
    »Meine Mutter«, sagte er, »ist krank gewesen. Deshalb hat sie nicht mehr leben wollen. Das stimmt.«
    »Ach Gott«, sagte sie, »das gibt’s doch gar nicht. Du weinst ja.«
    Sie legte ihm eine Hand auf den Unterarm, streichelte ihn, bis er ihn zurückzog. Er schüttelte den Kopf, langsam, mehrmals hin und her, es war eher ein Wiegen. Dann schluckte er leer.
    »Mein Vater war 84 Jahre alt, als er starb«, sagte er. »Ich habe dir gesagt, dass ich ihn im Spital besucht und noch mit ihm gesprochen habe.«
    »Hat er nicht auch einen Schrei ausgestoßen, als er die Treppe hinunterfiel? Einen Schrei zwischen dem Augenblick, in dem er merkte, dass er sich nicht mehr hat halten können, und dem Moment, als sein Kopf aufschlug?«
    Er nickte. »Ich habe ihm übrigens vergeben, damals im Spital, als er nichts mehr zu hören schien und röchelnd mit dem Tode rang. Ich habe ihm vergeben, vergeben!«
    »Hör auf zu schreien«, flüsterte sie, »du vertreibst ja die Gäste.« Er spürte die plötzliche Stille im Raum, schaute sich um. Einige schauten herüber, besorgt, angewidert. Andere hielten den Kopf tief über den Teller gesenkt.
    »Sag mir«, bat er, »was los ist.«
    »Was soll denn schon los sein?« Sie redete langsam, leise, als wäre er krank. »Du weißt über vieles Bescheid, das stimmt. Nur über dich selber hast du keine Ahnung.«
    Er hatte sich wieder gefasst. »Ach dieser Stumpfsinn. Diese billige Feld-Wald-und-Wiesen-Psychologie.«
    »Es ist die Wahrheit.«
    Frau Jaeck brachte den Wein, schenkte ein, wartete, bis er probiert hatte. Sie sagte kein Wort.
    »Schau dir diesen Clown an«, flüsterte er und zeigte auf das Bild an der Wand, »wie er dahockt, einsam, traurig. Er weiß nicht, warum er dahockt und was das alles soll. Schau seinen Penis an, wie er ejakuliert. Einfach so ins Leere hinein. Was soll das? Weißt du es?«
    »Hör mal«, sagte sie, »du bist ja tatsächlich geschockt.«
    Er nahm sein Glas, trank es in einem langen Zug aus, und sie schenkte ihm nach. Dann lehnte er sich zurück, um Platz zu machen für Frau Jaeck, die die Schüsseln mit dem Braten und den Pommes frites auf den Plattenwärmer stellte.
    »Irgendwoher«, sagte Hedwig, während sie sich zwei Scheiben Fleisch auf den Teller legte, »irgendwoher muss der Mensch ja kommen. Und irgendwohin muss er wieder gehen. Und es gibt keine guten Eltern und keine guten Kinder. Es gibt nur schlechte. Aber alle machen es so gut, wie sie es machen können. Glaubst du nicht, dass das die Wahrheit ist?«
    »Ich habe zu essen und zu trinken«, sagte er, »und zwar nicht zu knapp. Das Übrige kann mir egal sein. Meinst du das?«
    Hedwig aß. Sie schmatzte, es schmeckte ihr, und sie schenkte sich ein zweites Glas nach. »Du bist einfach ein sturer Aargauer Bock, dem nicht zu helfen ist. Das ist das, was ich wirklich meine, wenn du es genau wissen willst.«
    Und nach einer Weile: »Wie heißt er übrigens?«
    »Freddy Lerch.«
    Als es dämmerte, saß er hinter seinem Haus in der Wiese und hörte den Vögeln zu. Einer Amsel auf dem Dachfirst links, einem Hausrotschwanz auf dem Birnbaum, einem gurrenden, knarrenden Star auf der Pappel gegenüber. Dazwischen feines Zwitschern und Flöten von allerlei Schnäppern und Meisen und Finken, das Zirpen der Grillen, der Garten war belebt. Dann das vertraute Schnarchen Hedwigs, das aus dem offenen Fenster in seinem Rücken drang, ruckartig einsetzend, sich steigernd zum pfeifenden Fortissimo und ebenso plötzlich wieder aussetzend, auch das Haus war belebt.
    Was er sah, die sanft belaubten Stämme, die aus dem Strunk der alten Korbweide aufragten, die Erlen und Eschen im Hag, der zierliche Zwetschgenbaum in der Mitte der Wiese, das alles gefiel ihm gut. Und die Kühle, die aus dem immer noch feuchten Lehmboden aufstieg, beruhigte ihn
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