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Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Titel: Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
Autoren: Hansjörg Schneider
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vollends.
    So hatte er vor Jahrzehnten mit seinem Vater zusammengesessen, abends bei einbrechender Dunkelheit, in Einsamkeit vereint, die Mutter war längst gestorben. Sie hatten nach hinten zum Brunngraben geschaut, zum dunklen Wald, stumm, sie konnten nicht mehr miteinander reden. Sie schwiegen auch, wenn die Wildenten zum Weiher flogen, um dort zu schlafen. Sie hörten beide das Rauschen der Flügel in der Abendluft, sie schauten kurz hoch, ob sie das sich verschiebende Dreieck der Vögel erkennen konnten. Meist sahen sie es nicht, die Enten flogen zu schnell. Aber beide wussten, was der andere dachte.
    Er konnte nicht mehr mit seinem Vater reden, es ging einfach nicht. Sie hatten sich wohl noch unterhalten, wenn sie sich trafen, freundlich auf Abstand bedacht, das Schreien war sinnlos geworden. Aber ein richtiges Gespräch von Vater zu Sohn oder von Sohn zu Vater hatte es nicht mehr gegeben. Die Wunden saßen zu tief und durften nicht berührt werden, die Wunden, die die tote Ehefrau und Mutter gerissen hatte.
    Erst als der Vater im Spital lag – das Bild war in dieser Dämmerung so nahe, dass Hunkeler es hätte mit Händen berühren können, wenn er gewollt hätte, aber er wollte nicht –, als der alte Mann dalag auf dem Sterbebett, Schläuche in Nase und Vene, der Schädel knochig und riesengroß wie bei einem Säugling, die Augen offen, aber blind, der Mund aufgesperrt, zäh nach Atem ringend; als die fremden und plötzlich doch ungemein vertrauten Vaterglieder, die knochigen Hände, die dürr unter dem Nachthemd hervorgestreckten Zehen da einen Meter vor Hunkeler auf dem weißen Laken ausgebreitet waren, konnte er das Wort an ihn richten. Er legte eine Hand auf die fiebrige Stirn – es war die linke, die Mutterhand, das wusste er noch genau –, behutsam, denn der Schädel war verletzt. Er ließ die Hand liegen, mehrere Sekunden lang, um die Beziehung zum Geist, der immer noch im Schädel hockte, aufzunehmen. Und was er sprach, war ein Segen.
    Plötzlich schüttelte es Hunkeler, er merkte, dass er schlotterte, die Kühle des Bodens war in ihn hineingekrochen. Er griff sich den Pullover auf der Bank, legte ihn sich über die Achseln, zog ihn vorne am Hals zusammen. Ein wohliges Gefühl, wie eine Decke. Das Schnarchen in seinem Rücken hatte ausgesetzt. Der Himmel war dunkel geworden, Sterne hingen darin, ein Lichtermeer. Eine Fledermaus huschte durch die durchsichtige Schwärze, lautlos, als hätte es sie gar nicht gegeben.
    Als Hunkeler am andern Morgen rheinaufwärts spazierte, schlug es von der Martinskirche zehn. Erst die Viertelstunden, viermal die obere Terz, dann zehnmal den Grundton, ehern gehämmert. Die zehnte volle Stunde, sechzig Minuten, dreitausendsechshundert Sekunden, abgegrenzt und herausgerissen aus dem Tag, in der modernen Stadt Basel öffentlich bekanntgemacht durch mittelalterliche Glocken. Seltsam, dachte er, dieser Atavismus der Zeitrechnung, und irgendwie beruhigend. Zwölf Stunden, zwölf Monate, und doch hat man zehn Finger.
    Freddy Lerch, dachte er, wie geht’s dir denn? Liegst du im neuen Spitalgebäude oben, mit Schläuchen in Nase und Vene, ringst du mit aufgesperrtem Mund um Atem? Steht dein Sohn neben dir, mit dem du seit Jahren nicht mehr geredet hast, der dir aber jetzt seine Hand auf die Stirne legt? Hast du die zehn Schläge mitbekommen? Oder hast du das Zeitliche gesegnet? Er kam am Bootshaus der Rheinpolizei vorbei. Ein großes, schweres Gebäude, auf schwimmenden Lufttanks ruhend, gebaut für die Ewigkeit; ein starkes Kampfschiff behütend, dessen Motor jäh aufheulen, dessen Schrauben gewaltige Wellen, Enten und Schwänen das Fürchten lehrend, ins Wasser drehen konnten. Er grinste, hämisch und bitter.
    Beim Anlegeplatz wartete er auf die Fähre, die mitten im Strom schwamm, schräg am Drahtseil reißend, das oben an der Rolle hing. Sie näherte sich, ruhig, gemütlich. Kurz vor dem Steg drehte sich das Steuerruder parallel zur Strömung. Der Kahn glitt heran, der Fährmann kam nach vorn, stemmte sich gegen den Steg und bremste den Aufprall ab. Hunkeler stieg ein, setzte sich, klaubte das Fahrgeld aus der Tasche der Badehose. Seltsam, dachte er, auf dem Wasser oder im Wasser, das spielt keine Rolle. Hauptsache: Wasser. Der Mensch ist eine Amphibie. Erst schwimmt er im Fruchtwasser, dann wird er ans Trockene gepresst und lernt mühsam das Atmen und das Kriechen. Später folgt der aufrechte Gang. Aber was soll’s? Es zieht ihn ins Wasser zurück, und sei es mit einem
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