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Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Titel: Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
Autoren: Hansjörg Schneider
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Auge.
    »Zahlen Sie mir einen Schnaps?«
    Hunkeler winkte der Serviertochter, bestellte einen Schnaps. Der Mann kicherte zufrieden.
    »Abhandengekommen, dass ich nicht lache. Der kommt nicht abhanden. Der schlägt sich überall durch.«
    Hunkeler wartete. Eine Fliege setzte sich auf seine Hand. Er schaute ihr zu, wie sie sich putzte, geschäftig, mit präzisen Bewegungen der vorderen Beine sich über den Kopf fahrend.
    »Ich sollte ihm eine Botschaft überbringen«, sagte Hunkeler, und er kam sich blöd vor dabei, aber zu vermeiden war dieses Gefühl nicht. »Von seinem Enkel.«
    »Was für ein Enkel?« Der Mann fasste ihn erneut ins Auge, unerbittlich, er hatte Verdacht geschöpft.
    »Es ist ein junger Mann mit Kraushaar und Leberflecken, mit einem Ring im Ohr.«
    »Ach so, der Silvan.« Der Mann schien erleichtert. Er nahm das Glas und kippte sich den Inhalt in einem einzigen Zug in den Hals. »Das ist nicht sein Enkel, das ist sein Großneffe. Ein Schlingel, ein Vaurien ist das. Nicht der Rede wert. Freddy ist doch nie verheiratet gewesen. Der hat das nicht nötig gehabt, der hat Frauen genug gehabt. Der könnte noch heute jede Menge Frauen haben, an jedem Finger eine, wenn er nur wollte. So einer ist das.«
    Stolz, triumphierend saß er da, die Brissago im Mund, aus der bläulicher Rauch aufstieg. Sein Blick fiel aufs leere Glas, der Stolz wich aus seiner Miene. Er beugte sich vor, sehr klein jetzt in seiner dunklen Jacke, und sagte leise: »Die spinnen alle, die im Dorf oben. Die geben mir nichts mehr zu trinken, nur noch Kaffee und Mineralwasser. Ich bin jetzt 78 Jahre alt. Ist das gerecht? Warum soll ich nicht Schnaps trinken?«
    Hunkeler bestellte noch ein Glas. Der Mann blieb in vorgebeugter Haltung, lauernd, verschwörerisch fast. »Die sind verrückt da oben, die sind es schon immer gewesen. Ein Polizeistaat ist das, wenn Sie mich fragen, jawohl. Deshalb ist Freddy auch abgehauen, genau deshalb. Wegen dem Büffel. Weil er es nicht mehr ausgehalten hat, den ganzen Terror. Sonst wäre er hiergeblieben. Wenn diese Bevormundung nicht gewesen wäre, wäre er im Dorf geblieben. Aber so hat er keine andere Möglichkeit gehabt, als zur See zu gehen. In die Fremdenlegion oder zur See. Und da er nichts hat wissen wollen vom Militär, ist er eben aufs Schiff gegangen. Karibik, Havanna. Hier, schauen Sie.« Er zog eine vergilbte Ansichtskarte aus der inneren Jackentasche. »Die hat er mir geschrieben. Das war 1939. Die trage ich immer mit mir herum, die ist mein Talisman.«
    Er zwinkerte mit dem linken Auge, vieldeutig und schlau, dann begann er, mit seltsam feiner, hoher Stimme zu singen: »Auf, Matrosen, zur See!«
    Hunkeler nahm die Karte, hielt sie sich vor die Augen. Vorne drauf waren die Umrisse eines Seglers zu erkennen, auf der Rückseite die Überreste einer eckigen Männerschrift. Zu entziffern war sie nicht mehr.
    Der Mann hatte aufgehört zu singen. »Schön, nicht? Sie werden es nicht mehr lesen können, es ist zu lange her. Aber ich weiß es auswendig, was er mir geschrieben hat. ›Mein lieber Freund Willy‹, hat er geschrieben, ›komm herüber auf unser Schiff. Es heißt Andalusia. Sie suchen einen Mechaniker.‹ Ich bin Mechaniker, müssen Sie wissen, ich heiße Willy Holzherr. ›Hier verdienst du gutes Geld, um gut zu leben. Und niemand kennt dich. In Freundschaft, Dein Freddy.‹ Dein ist großgeschrieben, wie es sich gehört. Was sagen Sie jetzt?«
    »Und, sind Sie hinübergefahren?«
    »Geben Sie her«, sagte der Mann und versorgte die Karte in der Tasche. »Das verstehen Sie nicht, weil Sie zu jung sind. Sie wissen nicht, wie es damals war, nach 1929, in der Krise. Wer eine Stelle gehabt hat, der hat sie unbedingt behalten wollen. Und ich bin Mechaniker gewesen im Steinbruch vorn. Was meinen Sie, was wir dort für Maschinen gehabt haben. Und die großen Kräne mit den Zahnrädern, für die tonnenschweren Brocken. Die habe ich gewartet, das ganze Arsenal. Schauen Sie.« Er streckte ihm die Hände entgegen, Handflächen nach oben. Dicke, rissige Finger, vom linken Daumen fehlte das oberste Glied. »Den habe ich im Steinbruch gelassen, diesen Teil da. Und meine Seele auch. Die liegt dort unter den Steinbrocken, die niemand mehr brauchen kann, scheint’s. Nur der Schnaps da«, er griff sich das neue Glas, kippte es hinunter, »nur der hält noch zu mir. Mein letzter Freund. Außer Freddy. Aber der zeigt sich nicht mehr. Schon lange nicht mehr, Jahrzehnte.«
    »Aber Sie wissen, wo er
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