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Hundsmiserabel

Hundsmiserabel

Titel: Hundsmiserabel
Autoren: Steffi von Wolff
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schlafende, schnarchende Lazarett. »Ich habe doch nur einen Kalten Hund gemacht.«
    »Welche Zutaten sind da drin?« Ich war mir sicher: Gleich würde er eine Schrotflinte ziehen. Nein, wohl doch nicht. Mein Vater war ein Sauberkeitsfanatiker. Er würde es nicht ertragen, dass das ganze Zimmer voller Blut wäre. Der Teppich, die Vorhänge, die Tischdecke. Das war genau der Moment, in dem ich mir den bereits erwähnten Blitzschlag herbeisehnte. Aber draußen schneite es nur ein bisschen.
    Mein Vater ging von einem Kind zum anderen und roch an ihnen. Auch an Oma. »Die sind alle betrunken«, sagte er zu sich selbst und raufte sich dann die Haare. »Herrje, die kriegen wir nicht wach. Ich brauche erst mal einen Schnaps.« Und dann ging er zur Hausbar.
    Nein!
Wenn er zur Hausbar ging, würde er feststellen, dass die Flasche mit dem Strohrum fehlte, und wenn er festgestellt hatte, dass die Flasche mit dem Strohrum fehlte, könnte er sich umdrehen und mich fragen, ob ich denn wüsste, wo die Flasche mit dem Strohrum sei … Eine Situation mit nicht auszudenkenden Konsequenzen! Man würde mich noch an diesem Tag im Zonenrandgebiet aussetzen und fortan müsste ich mein Leben mit sieben weiteren Adoptivkindern und drogenabhängigen Beinahe-Erziehungsberechtigten in einem Ostberliner Plattenbau verbringen! Ich würde selbst drogenabhängig werden, müsste mich Christiane F. nennen und in Gebüschen nach herumliegenden gebrauchten Spritzen suchen, weil ich kein Geld für neue hätte. Meinen Körper müsste ich auch verkaufen und niemanden auf der ganzen Welt würde es interessieren, dass ich ein seelisches Wrack war …
    »Wo ist die Flasche mit dem Strohrum?«, fragte mein Noch-Vater und bückte sich vor die Hausbar.
    Meine Mutter war in der Zwischenzeit dabei, den herumliegenden Kindern nasse Waschlappen ins Gesicht zu schleudern. Sie weinte dabei. Ich hatte keine Tränen. Mir war eiskalt, und ein vorher nie bekanntes Gefühl durchzuckte mich: Ich hatte Minderjährige betrunken gemacht. Sie würden nie wieder aufwachen. Schuld, ich war schuldig! Aber ich musste stark sein. Ich wollte die Wahrheit sagen.
    »Im Müll«, hörte ich mich sagen, während die Tischdecke – von meiner Mutter selbst mit Weihnachtsmännern und Tannenbäumen bestickt, was ungefähr sechs Wochen gedauert hatte – anfing zu brennen, wofür eine umgekippte Kerze verantwortlich war.
Vielleicht soll es so enden,
dachte ich mit pubertärem Fatalismus.
Ein paar Sekunden noch, und wir sind alle verkohlte Klumpen.
    Meine Mutter löschte das Feuer mit Limonade und weinte noch einmal auf, diesmal wegen der Tischdecke.
    »Wieso ist die Flasche im Müll?« Mein Vater war jetzt wirklich böse.
    »Wir hatten kein Rumaroma … und da dachte ich, Strohrum geht auch.«
    »Du hast
was?«
, brüllten meine Eltern gleichzeitig los. Ich erwog die Möglichkeit, mich mit einem Hechtsprung durch die geschlossene Fensterscheibe zu werfen, wie ich es in einem Film gesehen hatte. Wir wohnten immerhin im sechsten Stock, es hätte sich gelohnt. Doch genau in diesem Moment ertönte die Türglocke. Die ersten Eltern kamen, um ihre Kinder von einer putzigen Weihnachtsfeier abzuholen. Jetzt lagen meine Nerven endgültig blank.
    »Ich hab es nicht gewollt!«, schrie ich los, »wirklich nicht gewollt!« Ich schlug die Hände vors Gesicht und fing an, laut zu heulen. Meine Mutter stimmte ein. Ob wegen der infantilen Alkoholopfer, der Tischdecke oder meiner ungewissen Zukunft in der kalten Ferne, ließ sich nicht zweifelsohne feststellen.
    Erneut klingelte es an der Tür.
    »Stopp!« Mein Vater schüttelte mich. »Jetzt hört ihr mir beide zu!« Er sah meine Mutter und mich an. »Wir müssen einen Schlachtplan entwerfen! Auf gar keinen Fall dürfen die Eltern ihre betrunkenen Kinder hier sehen. Los, wir tragen sie in dein Zimmer!« Schon hatte er Charlotte auf dem Arm, meine Mutter und ich packten ebenfalls mit an. Wir wussten noch nicht, was er vorhatte. Manche der vierjährigen Schnapsleichen kicherten im Schlaf. Nachdem sie alle auf und vor und unter meinem Bett lagen, war Oma dran. Sie wurde ins Elternschlafzimmer verfrachtet und öffnete nur kurz die Augen, um uns mitzuteilen: »Fridolin Schnuckel ist der einzige Mann, den ich jemals geliebt habe.« Dann schlief sie sofort weiter.
    Zurück im Wohnzimmer, holte Vati, begleitet vom inzwischen infernalischen Klingeln, alle alkoholischen Getränke aus dem Barschrank. In Windeseile wurde der Tisch abgeräumt und die Flaschen darauf
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