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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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Familien einen erhielten, die noch keinen besaßen. Es gab kaum etwas, das im Lager begehrter war. Für einen neuen Kanister wurden dreißig Dollar bezahlt, und ich begriff bald, dass ich dieses Geschäft den Abagetsi überlassen sollte. Ich suchte mir eine Handvoll hoher Tiere aus, und mit ihnen zog ich ein gut gehendes Geschäft auf. Ich versorgte sie mit Kanistern, sie verkauften sie an die armen Familien, und wir machten halbehalbe. Keiner bemerkte etwas, den Hilfsorganisationen schien es egal zu sein, solange im Lager Ruhe herrschte, und selbstverständlich wagte keiner von den Armen, sich gegen einen Abagetsi zu stellen.
    Nach einer Woche besaß ich ein paar hundert Dollar und machte mich auf die Suche nach einer Transportmöglichkeit. Ich wollte in den Norden, in die Lager von Goma, und ich musste mich beeilen, denn die Nachrichten, die uns aus dieser Gegend erreichten, wurden mit jedem Tag düsterer. Die Cholera wütete. Es hieß, täglich würden Tausende sterben, die man in der harten Erde nicht begraben könne und deshalb in Matten packe und liegen ließ, wenn man sie nicht in den See warf, wo die Leichen das Wasser zusätzlich verseuchten. Die Journalisten, die man in Inera gesehen hatte, zogen nun alle Richtung Norden, und mit einem Reporter von Agence France Press verließ ich an einem Morgen Mitte Juli das Lager.
    Wagen und Fahrer hatte uns ein Beamter der zairischen Lagerpolizei besorgt, und so ließen wir die relative Beschaulichkeit hinter uns und fuhren in die Hölle von Goma. Ich will es nicht beschreiben, man hat genug darüber gelesen, und tatsächlich befanden sich ganze Kompanien von Presseleuten im Nordkivu. Fernsehteams filmten Sterbende, und niemand sollte denken, dass die Kameras nach ihnen suchen mussten, es war einfach nicht anders möglich. In welche Richtung man auch sah, es befand sich immer ein sterbender Mensch im Blickfeld. Die Journalisten traten den Helfern auf die Füße, und wenn sie sich auch nicht mochten und ein ziemlicher rüder Umgangston in den Lagern herrschte, so wussten sie doch alle, wie sehr sie aufeinander angewiesen waren und jeder nur seinem Geschäft nachging. Die Helfer drängten vor die Kameras, schließlich ging es für sie um Spendengelder, und tatsächlich waren kaum bessere Bilder vorstellbar, um das Mitleid und die Abscheu der Fernsehzuschauer zu erregen, eine unverzichtbare Voraussetzung, um ihre Geldbörsen zu öffnen.
    Nun, alles wird man ihnen nicht gezeigt haben, nicht, was ich gesehen habe, nicht die leblosen Körper, die man zu den Toten auf die Lastwagen warf, wo sie für einen Moment wieder zum Leben erwachten und versuchten, vom Leichenberg zu klettern, stürzten, zu Boden fielen und nun wirklich tot waren. Nicht die Helfer, die über diesen Slapstick des Todes in hysterisches Lachen ausbrachen. Nicht die Lastwagen mit den Hilfsgütern, die keinen anderen Weg fanden und über dürre Leichen rollten, die unter den Rädern knackten wie brennendes Reisig.
    Und dazu machte sich zu jener Zeit zum ersten Mal seit siebzehn Jahren der Nyiragongo bemerkbar, spuckte Rauch und Lava aus, es war, als wollte die Natur den Menschen nicht alleine die Regie über das Höllenspektakel überlassen. Eindrucksvolle Bilder, die jede andere Ansicht des Elends weit in den Schatten stellten und einen ersten Platz in den Abendnachrichten füllten. Jede Hilfsorganisation wollte nach Goma, sie stritten sich um die Einsätze, und ich wusste, diese beinahe perfekte Hölle, der Vulkan, die Leichen, war nicht die Strafe für die Mörder, sie war die Voraussetzung, damit die Mörder aufgepäppelt wurden. Und es war ein guter Preis, denn alles in allem starben doch nicht mehr als einige Zehntausend von denen, die einige Hunderttausend umgebracht hatten. Doch ihr Glück war, vor den Augen der betroffenen Welt zu krepieren, und ein Tod vor laufender Kamera ist mehr wert als hundert ungesehene Tode. Und wenn man auch wusste, wer hier starb, und man um das Lager einen Stacheldrahtzaun hätte ziehen müssen, die Mörder einsperren und vor Gericht hätte stellen müssen, so brachte man dies im Namen der Menschenliebe natürlich nicht übers Herz.
    Auf der Terrasse des Hotels des Grands Lacs fand jeden Morgen die Versteigerung der Toten statt, die Zahlen wurden an die drängelnden Presseleute verkauft, und die Vertreter der Hilfsorganisationen benahmen sich wie Jahrmarktsschreier, bemüht, möglichst hohe Opferzahlen präsentieren zu können, denn eine große Zahl in den Schlagzeilen
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