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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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Alarmanlage, die, wäre jemand eingedrungen, mit ihrem Scheppern die Schlafenden geweckt hätte. Ich betrachtete die Silhouetten, die über die Zeltwände tanzten, ein Schattentheater, bevor in einem Zelt nach dem anderen die Lampen gelöscht wurden und nur noch der Mond als dünne Sichel am Himmel stand. Ein Weißer in kurzen Hosen, den Oberkörper nur mit der Weste eines christlichen Hilfswerkes bekleidet, stakste vorbei, in den Händen einen Becher und eine Zahnbürste, er warf einen kurzen Blick in Richtung der stöhnenden Frau, kniff die Augen zusammen, erkannte gleichwohl zu wenig, um sich die Sache anzusehen, ging dann weiter.
    In jenem Moment habe ich gelernt, wie unwesentlich Umstände sein können; ein Zeltlager, das sich zur Nacht bettet, verströmt eine unwiderstehliche Behaglichkeit, gleichgültig, ob in den Zelten Flüchtlinge oder Pfadfinder liegen.
    Ich erwachte vom Regen, der auf meinen Kopf prasselte, es musste kurz nach sechs sein, die Sonne war gerade aufgegangen, und im Lager herrschte schon Betrieb. Männer verließen in Zweierkolonnen das Lager in nördlicher Richtung, jeder eine Hacke geschultert – sie würden erst abends von den Feldern nach Hause kommen. Verschlafene Helfer standen fröstelnd herum, in der einen Hand die Kaffeetasse, in der anderen eine Zigarette. Ein paar Männer luden die junge Frau auf eine Bahre. Sie war gestorben, während ich geschlafen hatte, und als sie ein kleines Bündel vom Boden aufhoben und auf den Leichnam legten, erkannte ich das Kind, dem die Frau in der Nacht davor das Leben hatte schenken wollen und das ihnen beiden den Tod gebracht hatte. Die Männer trugen Frau und Kind mit unbeteiligten Gesichtern weg, ohne Empörung oder Trauer.
    Das Lager hatte mit dem Morgen jede Idylle verloren, wohl auch, weil ich es nun mit ausgeruhtem Verstand wahrnahm, aber vor allem, weil der Regen eingesetzt hatte. Es gab keine Sickergruben, und das Schmutzwasser floss ungehindert über den Abhang, drückte durch die Zeltplanen, verseuchte die karge Habe der Flüchtlinge mit seinem stinkenden, kotigen Brei, und schon nach kurzer Zeit hatte sich das Lager in einen klebrigen fauligen Morast verwandelt. Die Flüchtlinge blieben ruhig, nur die Helfer verfielen in Hektik, und es war der Tag, an dem das Hochkommissariat die Rationen verteilte, und weil ich Hunger hatte, stellte ich mich in die Reihe, aber statt dass ich Essen erhielt, zog mich eine junge Frau in das Zelt und wollte wissen, welche Organisation ich vertrete. Gar keine, gab ich zur Antwort, ich sei selbst auf der Flucht, zum Essen, nicht zum Arbeiten gekommen, aber sie verzog bloß den Mund und gab mir zu verstehen, wie wenig komisch sie meinen Scherz fand. Im nächsten Moment drückte sie mir ein Schreibbrett in die Hand, ich sollte auf einer Liste die ausgegebenen Rationen abstreichen, und von einem Augenblick auf den anderen hatte ich mich von einem Flüchtling in einen Helfer verwandelt.
    Die Ausgabe dauerte mehrere Stunden, jeder erhielt die Tagesrationen, eintausendneunhundert Kalorien täglich in Form von vierhundert Gramm Mais, dreißig Gramm Öl, vierzig Gramm Fischkonserven, aber wir verteilten die Pakete nicht an die einzelnen Familien, sondern an die Bürgermeister und Sektorenchefs, und ohne Ausnahme waren das dieselben, die das hunderttägige Morden angeführt hatten. Auch sie hatten sich verwandelt, denn für die Hilfsorganisationen gehörten auch Mörder auf der Flucht zu ihrer Klientel, die Essen brauchte, Decken, ein Dach über dem Kopf. Diese Organisationen machten keine Politik, so wie die Direktion niemals Politik gemacht hatte. Das übernahmen andere für uns, nämlich die Mörder selbst, die ihren Staat in den Camps nachbauten, und zwar genauso, wie er gewesen war, die hohen Tiere blieben hohe Tiere und erhielten als Erste Lebensmittel, die größten Zelte in den besten Lagen, und die kleinen Leute bekamen die Brosamen, was übrig blieb, und selbstverständlich hatten sie dafür zu zahlen.
    Ich fütterte die Mörder, und dies schien mir nur gerecht, denn schließlich hatten sie mich auch gefüttert, hatte ich nur dank Vince und seiner Truppe überlebt.
    Abends saß ich im großen weißen Zelt an einem langen Tisch mit den Helfern, und sie waren, was man müde, aber glücklich nennt. Sie hatten Bäuche gefüllt, und für sie war ein Bauch ein Bauch, das war ihre Aufgabe, ihr Geschäft. Ein Opfer war weder gut noch schlecht, es war einfach ein Opfer. Wir löffelten die dicke Suppe, dankbar,
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