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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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ein weißes Kreuz auf rotem Grund und kein rotes Kreuz auf weißem Grund war, und ich also kein Helfer war, nicht verpflichtet, irgendjemandes Haut zu retten außer meiner eigenen. Ein Umuzungu als Flüchtling, das ging über ihre Vorstellungskraft.
    Die Milizionäre hatten einen Jeep aufgetrieben, was nur deshalb eine Erleichterung war, weil ein Mann mit weißblonden Haaren auf der Kühlerhaube saß, das Gewehr im Anschlag, bereit, jeden niederzuschießen, der aufsteigen wollte. Trotzdem brauchten wir für weniger als hundert Kilometer drei Tage. Das ganze Land war auf den Beinen, die Paranoia, die man während vier Jahren der Bevölkerung eingeimpft hatte, trieb sie alle fort, Hunderttausende verließen ihre Hügel, ließen zurück, was von einem Menschen nicht getragen werden kann, und die Straße war gesäumt von Stühlen, verzinktem Kochgeschirr, von allem möglichen Hausrat, der jemandem zu schwer geworden war und deshalb liegengelassen wurde. Immer wieder traf man auf Leichen, Menschen, die den Strapazen der Flucht erlegen waren, Erschlagene, nur wenig abseits der Straße.
    Zur Stunde, da sich die Sonne nicht entschließen zu können scheint, ob sie wirklich untergehen will, und wie trunken über ihre Bahn torkelt, trafen wir in Inera ein. Es war das erste Lager hinter Bukavu, und es befand sich an einer Hanglage, rechts und links der ansteigenden Straße, und zog sich über eine Länge von vielleicht zwei Kilometern. Alles in allem belegte Inera eine Fläche von vielleicht sechzig Hektar, und es war das größte der drei Lager, aber nicht das am dichtesten besiedelte. Mehr als fünfzigtausend abgezehrte, erschöpfte Menschen vegetierten hier, und jeder von ihnen verfügte alles in allem über zehn Quadratmeter Raum, und das war komfortabel, verglichen mit Adi-Kivu, wo sich drei Menschen dieselbe Fläche teilen mussten. Ungeteerte Pfade durchzogen die Zeltstadt, und man sah auf den ersten Blick, welchen Status die Bewohner hatten. Die Reichsten konnten ihre Zelte stehend betreten, die ärmsten und jene, die zu schwach waren, ein Zelt zu bauen, lagen eingewickelt in die Planen der UNO auf dem Boden, nach Art der Somalier, wie man es nannte.
    Die Plätze am Rande des Lagers waren die begehrtesten, nur dort war es möglich, eine Ente oder ein Huhn zu halten, und manche pachteten von den einheimischen Bauern ein Stück Land, aber es war nie sicher, ob sich die Kongolesen an die Verträge hielten, denn es war behördlich verboten, irgendein Geschäft zu betreiben. Wer noch eine Hacke hatte retten können, ging als Tagelöhner auf die Felder, die Bezahlung bestand aus Bittermaniok, der unverarbeitet nicht genießbar war und zuerst gestampft, gekocht, fermentiert und wieder gekocht werden musste, damit man ihn gewinnbringend verkaufen konnte. Die Leute von der UNO hatten die nötigste Infrastruktur erstellt, ein Gesundheitszentrum, ein Krankenhaus, eine Informationsstelle, den Posten, wo alle zwei Wochen die Lebensmittel verteilt wurden.
    Als wir ankamen, glich Inera einem Viertel aus den ersten Tagen der Industrialisierung. Alle Familien kochten gleichzeitig, ein Feuer brannte vor jedem Zelt, eine kleine Fabrik, die dicken Rauch ausstieß. Das Lager war in eine einzige beißende Wolke gehüllt, man ertrug es nur, wenn man sich einen nassen Lappen vor das Gesicht hielt.
    Meine erste Nacht verbrachte ich unter dem Vordach einer verlassenen Frisörbude, und als ich abends von meinem leicht erhöhten Standpunkt auf das Lager blickte, über das die Dunkelheit hereingebrochen war, die die hässlichen Einzelheiten des Elends gnädig mit einem schwarzen Tuch bedeckte, erschien es mir wie ein behaglicher Ort, eine Idylle. Jedes Zelt war eine eigene kleine Welt, eine von Diesel- oder Petrollampen erhellte Gemütlichkeit. Es war kein Friede, der über dem Lager lag, aus vielen Zelten hörte man das Wimmern hungriger Kinder, und nicht weit von mir, unter dem Vordach der Wasserstelle, lag eine schwer atmende Frau, die dann und wann unterdrückte Schmerzensschreie ausstieß und ihre Hände in den Boden krallte. Nein, kein Friede, aber eine Welt aus stillen, müden Menschen, die sich zum Schlafen legten und einen neuen Tag erwarteten, und ihre Ergebenheit in die Situation, so elend sie sein mochte, erschütterte mich.
    Die Männer machten einen letzten Kontrollgang um die Zelte, überprüften die Heringe, und die Frauen schlossen pünktlich um acht Uhr die Planen, stellten das Kochgeschirr in den Eingang als improvisierte
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