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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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bin ich mit ihr vertraut. In meinem ganzen Leben habe ich mein Tagwerk mit ihr bestritten. Als kleiner Junge habe ich Kleinholz gehackt, später, als ich größer war, in den Feldern das Sorghum geschnitten, Bananenstauden gelichtet. Meine Hand ist mit der Klinge verwachsen, was immer ich damit tue, es fällt mir leicht. Manche, vor allem die jungen Kerle, die immer was Besonderes sein wollen, ziehen mit Knüppeln los. Ich nicht, ich habe nie einen Knüppel benutzt, wozu auch, er taugt nicht zur Arbeit. Manche arbeiten hastig, mein Neffe ist so einer, mäht ein Feld in einer Stunde und meint dann, er sei fertig, aber überall stehen noch Halme. Ich arbeite langsam, aber gründlich, und ich habe mir nie sagen lassen, wie ich meine Arbeit machen soll. Jeder nach seiner Weise. Manche arbeiten wie weidende Ziegen, andere wie wilde Tiere. Manche arbeiten langsam, weil sie schwach sind, andere aus Faulheit. Manche arbeiten langsam, weil sie verderbt sind, andere arbeiten schnell, damit sie früher nach Hause gehen können, manche nehmen ihre Knaben mit in die Sümpfe und lehren sie die Arbeit, wie uns die Väter die Arbeit gelehrt haben, durch Vorzeigen und Nachahmen. Das sagte er. Sie schickten ihre eigenen Kinder zum Töten, und sie setzten ihnen Kinder vor, Opfer von derselben Größe. Er trank seinen Whisky, und das erste Mal in meinem Leben wünschte ich den Tod eines Menschen. Ich sagte ihm, dass er in der Hölle brennen würde, und ich war so töricht zu glauben, dies würde ihn beeindrucken. Er war ein guter Christ gewesen, war jeden Sonntag zur Messe gegangen. Das wird wohl stimmen, sagte er, aber was soll ich in Gottes Paradies. Ich wäre alleine dort, nein, unser Präsident ist auch dort, aber nur wir beide, alleine unter lauter seligen Europäern, und das möchte ich nicht, verstehen Sie, Monsieur. Was sollte ich auch mit unserem Präsidenten reden. Ich möchte dort sein, wo mein Volk ist, wo meine Nachbarn sind, meine Vettern, Onkel, meine Frau. Und das ist nun einmal die Hölle. Es gibt ein Sprichwort, dass Imana, der Schöpfergott, tagsüber das Land verlasse, aber abends wieder heimkommt. Dieser Tag hier, er währt schon hundert Tage, und wir fragen uns, wann der Gott heimkehren wird und ob es jemals wieder Abend wird. Gott hat uns vergessen, und bis er wiederkommt, müssen wir die Arbeit tun. Sie ist hart, aber man gewöhnt sich daran. Man muss nur darauf achten, nicht in ihre Augen zu blicken, wenn man sie trifft. Es sind schwarze Augen, Monsieur, und ihr Blick ist die Strafe für uns.
    Ich fragte ihn, ob er wisse, wie spät es ist. Es werde gegen drei Uhr sein, sagte er, und er müsse bald aufbrechen, aber ich hielt ihn zurück, sagte, er solle einen letzten Whisky mit mir trinken, eine halbe Stunde noch, schließlich würden wir uns nie wiedersehen. Er ließ sich überreden, und ich spürte, wie die Zeit verstrich, und meine innere Stimme flehte ihn an, sich zu bücken und seine Identitätskarte aufzunehmen, aber er tat es nicht, und kurz darauf hörten wir Schritte in der Auffahrt. Théoneste sprang vom Stuhl auf, die Augen weit aufgerissen, und ich wusste nun, was er mit den schwarzen Augen gemeint hatte. Die Angst der Sterbenden war auf ihn übergegangen, ich wusste nicht, von wie vielen Erschlagenen er die Angst geerbt hatte, aber so wie er dastand und sich umsah, konnte ich erahnen, dass es Dutzende sein mussten. Ich beruhigte ihn, sagte, es seien meine Freunde, die mir Lebensmittel brächten, und ich fühlte mich, als würde ich ein todgeweihtes Tier besänftigen, damit es ruhig seinen Streich empfangen konnte. Schau zu Boden, dachte ich, ich hoffte es wirklich, und es hätte mich nichts gekostet, ihn auf das lumpige Stück Papier aufmerksam zu machen, das unter dem Stuhl lag, aber ich fühlte so etwas wie die Macht des Schicksals, und auch, dass ich mich nicht dagegenstellen durfte und alles hinnehmen musste, was jetzt folgen würde.
    Vince trat in den Garten, freudig beinahe, beinahe mit offenen Armen, gefolgt von seinen Männern, der eine mit der Zahnlücke trug den hinteren Teil einer Rinderhälfte auf dem Rücken, frisch geschlachtet, offensichtlich, blutig und glänzend. Als Vince den Gärtner sah, erstarb sein Lachen, doch sein Gesicht wurde nicht feindselig, sondern vollkommen ausdruckslos, wie die ungelenke Zeichnung eines Kindes. Die Männer luden ihre Ware ab. Wer das sei, fragte Vince, und bevor ich antworten konnte, stellte sich Théoneste vor, ging auf Vince zu, und ich konnte mir
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