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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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verklungen war, machte sie einer Frische Platz, einer gleichmäßigen und vollständigen Entspannung, die sich nicht auf die Muskeln beschränkte, sondern jeden Teil meines Körpers umfing, sogar die inneren Organe. Es war, als sei ich von einem Luftkissen umhüllt, und die frische Brise, die in diesem Moment durch den Garten zog, war seit Wochen das erste Mal frei von Leichengestank, nicht süß, sondern herb, der Sauerstoff, dieses wunderbare Gas, war riechbar sauer und ein beinahe kulinarischer Genuss. Ich zog dieses segensreiche Gas in jede einzelne Zelle meines Körpers, und dann machte ich mich daran, die Überreste meiner gestrigen Tat zu beseitigen.
    Ich hörte, wie jemand durch die Auffahrt geschlichen kam, es war mein alter Gärtner, Théoneste, ein Fahrrad neben sich herschiebend. Er blieb fünf Meter von mir entfernt stehen, offensichtlich aus Angst, ich könnte ihn wieder schlagen. Er werde gleich wieder gehen, meinte er, aber er wolle mich wissen lassen, dass er Agathe gesehen habe. Sie sei in seine Siedlung gekommen, auf einem Pickup und in Begleitung einiger Bewaffneter. Mit einem Megafon habe sie auf der Ladefläche gestanden und von den Rebellen gesprochen, die bald die Stadt einnehmen würden. Sie hatte alle Bewohner zur Flucht aufgerufen, denn es sei klar, wer bleibe, falle den Kakerlaken zum Opfer, sie würden jeden umbringen, der ihnen in die Hände falle. Schon seien Zehn-, ja Hunderttausende auf dem Weg nach Bukavu und Goma, wo man neue Kräfte sammle, um das Land bald zurückzuerobern. Die Sektorenchefs seien verantwortlich für den Abtransport, und jeder habe sich an ihre Befehle zu halten. Dann seien sie davongebraust, in die nächste Straße, und den ganzen Morgen habe er das Quäken des Megafons gehört.
    Morgen werden wir Kigali verlassen, sagte er, wir haben das Nötigste gepackt, und wenn Sie möchten, können Sie mit uns kommen. Aber ich hatte nicht zugehört, sondern die ganze Zeit auf das Fahrrad gestarrt, ein schwarzer eingängiger Inder, mit einem gepolsterten Sitzbrett, dort, wo sonst der Gepäckträger ist, und ich hatte es zuerst kaum für möglich gehalten, aber über die Vorderlampe spannte sich ein türkisfarbenes Schild. Weiße Schrift.
Wer sich beeilt, kommt früher zu Gott
. Wo ist sie, fragte ich ihn, sie kommt doch gleich, nicht wahr, das Fahrrad hat ja einen Platten, du hast es für sie geschoben, bestimmt hat sie jede Menge zu tragen.
    Er wandte seinen Blick ab, und dann wollte er gehen, aber ich lud ihn ein, ich habe Whisky da, sagte ich, trink einen Whisky, bevor du gehst, und er war verwirrt, erstaunt, aber dann legte er das Fahrrad auf den Boden, sehr sorgfältig, und zögerlich, voller Scheu folgte er mir auf die Veranda, wo ich ihn aufforderte, sich zu setzen. Er war ein guter Gast, zog seine Jacke aus und hängte sie über die Lehne, und in diesem Moment fiel ein Papier zu Boden, aber Théoneste bemerkte es nicht und setzte sich. Ich schenkte uns zwei Gläser ein, fragte ihn, ob er wisse, wohin Agathe gehen werde, in den Osten, nach Tansania, oder nach Westen über die Grenze zum Kongo. Die
Abagetsi
, sagte er, die hohen Tiere, gingen alle nach Westen, soviel er gehört habe. Aber nicht nach Goma, sondern südlicher, in die Gegend um Bukavu. Wenn er wählen könnte, er würde auch nach Inera gehen, zumal er dort Verwandte habe, aber die Interahamwe machten eine rigorose Auslese, und wer nicht mindestens ein Staatsbeamter war, der müsse nach Goma.
    Was mit seiner Ware geschehen werde, wollte ich wissen. Er zuckte mit den Schultern, meinte, er werde nichts davon mitnehmen können, und der Markt sei geschlossen. So bleiben die Sachen also in Haus Amsar, meinte ich, und er sagte: Wenn es Sie nicht stört. Und das Fahrrad, fragte ich, das Fahrrad wirst du wohl mitnehmen, nicht wahr? Ich habe sechs Kinder, Monsieur, und meine Frau erwartet das siebte. Sie wird auf dem Fahrrad sitzen. Musste sie deshalb sterben, Théoneste, musste Erneste sterben, weil du ihr Fahrrad wolltest, und ich dachte, gleich hebt er seine Identitätskarte auf, die zu Boden gefallen war, seine Lizenz zum Töten, die Garantie, nicht selbst getötet zu werden. Sie wissen, was sie war, Monsieur, gab er zur Antwort, eine Ibyitso war sie, eine Verräterin, und ich habe nur getan, was man uns aufgetragen hat. Nichts anderes. Wie hast du es getan, frage ich – und er schaute mich an, mit starrem Blick. Ich bin Ihr Gärtner, Monsieur, Sie wissen, wie gut ich mit der Panga arbeite. Seit der Kindheit
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