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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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Feinden, nach den Gespenstern, die er selbst zum Leben erweckt hatte. Sein Kopf bewegte sich vogelhaft, ruckartig, nur ein Objekt auf einmal im Auge.
    Und als er sich umsah, bemerkte ich, wie sich die Gardine in der Zugluft bauschte, und erkannte, dass ich die Verandatür nicht geschlossen hatte. In ein paar Sekunden würden sie mich entdecken. Erst spielte ich mit dem Gedanken, mich ins Versteck hinter dem Notstromaggregat zu verziehen, das heißt, der Gedanke spielte mit mir, raste durch mein Gehirn und suchte einen Ausweg. Auf einen Befehl des Anführers setzten sich die Milizionäre ins Gras und legten ihre Macheten neben sich. Einer reichte ein Brot herum, ein anderer eine Flasche Whisky, und so fläzten sie sich, ruhten sich aus, streckten ermattet die Beine von sich. Nur der Anführer stand noch und suchte den Garten ab, jetzt würde er gleich die Verandatür entdecken, dachte ich, aber er ging in die andere Richtung, in eine Ecke des Gartens, öffnete die Hose und erleichterte sich kauernd hinter der Ficifolia. Schließlich kam er zurück, ordnete im Gehen seine Kleider, und dann legte er sich neben seine Kameraden, die Hand als Kissen unter dem Kopf.
    Ich betrachtete die Mörder, die in meinem Garten schliefen, und sie erschienen mir wie Kinder, die sich von einer Geburtstagsfeier ausruhen, bemalt und kostümiert. Sie atmeten schwer, einer schnarchte sogar, und wie ich sie hingestreckt da liegen sah, unschuldig, friedlich, da befiel mich eine Müdigkeit, wie ich sie lange nicht gefühlt hatte, irgendwie tröstlich, und als ich mich auf das Sofa legte, dachte ich, es könnte alles ein gutes Ende nehmen, meine Gefangenschaft, das Gemetzel – wenn ich nur einmal tief schlafen könnte, traumlos, dann würde sich für alles eine Lösung finden. Und als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, leuchtete ein weißer Mond in den verlassenen Garten. Sie hatten die leeren Flaschen zurückgelassen, eine davon nur halb ausgetrunken. Das Bier schmeckte bitter und nach Metall, aber immerhin befeuchtete es meine heiße, geschwollene Zunge.
    Auch am nächsten Tag wartete ich vergeblich auf Regen; am übernächsten Tag, um die Mittagszeit, sah ich vom Dach aus, wie sich schwere schwarze Wolken an den Hügeln jenseits der Sümpfe zusammenzogen. Ich betete, dass sich der Regen in unsere Richtung bewegen möge, aber bis zum Abend fielen bloß einige Tropfen, das Wasser im Topf reichte für einen halben Mund voll. Ich suchte im Garten nach versteckten Depots, nach Pfützen, die sich in Halmansätzen und Blätterkuhlen gesammelt hatten. Leckte die feuchten Blätter ab, aß eine Banane nur um der Flüssigkeit willen. Ich kaute lange, und trotzdem weigerte sich der Hals, den Brei zu schlucken. Der Rachen fühlte sich an, als wäre ich drei Tage durch die Wüste geirrt, der Hals war geschwollen, Nase und Mund waren heiß, aber ich schwitzte nicht, die Haut war trocken und wie gepudert. Hecheln wie ein Hund. Sich setzen, damit man nicht umkippt. Vor meinen Augen erschienen kleine, helle Ringe, wie die Sonnenscheiben der Azteken, sie verbanden sich zu Ketten, und ihr Glitzern war das Glitzern des Lichts auf dem Wasser eines Sees. Bäche speisten ihn mit tanzenden Molekülen, ich sah die Bergbäche in meiner Heimat, die Fluten des Kivu, die ewig und beständig an die Ufer schlagen. Ich sah all die Regenfälle, die ich in diesem Land erlebt hatte. Regen – es war nicht Regen, nicht so, wie ich ihn gekannt hatte. Hier fiel er nicht in Tropfen, es waren Wasserballons, und genauso klatschten sie auch, wenn sie den Asphalt trafen, laut, als würde der Himmel Ohrfeigen verteilen. Unter den Wassermassen bogen sich stattliche Bäume bis zum Brechen, Straßen verwandelten sich in zehn Sekunden in Abflusskanäle, Berghänge verflüssigten sich und stürzten zu Tal, jeder Regenguss eine mittlere Sintflut.
    Mehr als einmal hatte mich ein solcher Schauer in drei Sekunden bis auf die Unterwäsche durchnässt, und ich fühlte wieder, wie es von der Stirn tröpfelte, feine Bäche rannen über meine Nase, als dünner Faden rieselten sie in meinen Mund, ich hörte die tausend Geräusche, zu denen Wasser fähig ist, wie es rieselte, plätscherte, rauschte, ich sah in einer irren, betörenden Halluzination, wie sich diese Dreigespanne aus zwei Wasser- und einem Sauerstoffatom an den Händen hielten und fröhlich über Steine tanzten, über Blätter rollten, als Schwaden in den Himmel stiegen wie reine Seelen ins Elysium. Ich blickte ihnen nach, mit
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