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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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dem Morgen, als sie ihn in seiner Hinterhauskammer antraf, wie er zwischen den Zähnen von seinen Umzugsträumen brummte, während er die Laboratoriumsstücke in ihre Originalkisten packte. Sie ließ ihn zu Ende packen. Sie ließ ihn die Kisten zunageln und seine Initialen mit einem tintengetränkten Wedel daraufschreiben, ohne ihm den geringsten Vorwurf zu machen, jedoch wohl wissend, daß er wußte (hatte sie es ihn doch in seinen dumpfen Selbstgesprächen sagen hören), daß die Männer des Dorfs bei seiner Unternehmung nicht mitmachen würden. Erst als er die Tür der Kammer auszuhängen begann, wagte Ursula die Frage, warum er das tue, worauf er mit einem Anflug von Bitterkeit erwiderte: »Und wenn kein Mensch mitgeht, gehen wir allein!« Ursula verlor nicht die Fassung.
    »Wir gehen nicht«, sagte sie. »Wir bleiben hier, weil hier unser Sohn geboren wurde.«
    »Noch ist hier keiner gestorben«, sagte er. »Man ist nirgends zu Hause, solange man keinen Toten unter der Erde hat.«
    Ursula entgegnete mit sanfter Festigkeit:
    »Wenn es not tut, daß ich sterbe, damit ihr hierbleibt, dann sterbe ich.«
    José Arcadio Buendía hätte nie geglaubt, daß der Wille seiner Frau so unbeugsam sein könnte. Er versuchte sie zwar mit der Zaubermacht seiner Phantasie zu verführen, mit der Verheißung einer Wunderwelt, wo man nur ein paar Zaubertropfen in die Erde zu träufeln brauchte, damit die Pflanzen nach Belieben Früchte trugen, und wo alle Arten von schmerzstillenden Apparaten zu Spottpreisen feilgeboten wurden. Doch Ursula war unempfindlich gegen seine Hellsicht.
    »Statt Hirngespinste auszubrüten, solltest du dich lieber um deine Kinder kümmern«, gab sie zurück. »Schau sie dir an, wie sie aussehen, der Güte Gottes überlassen wie die Maulesel.«
    José Arcadio Buendía nahm die Worte seiner Frau wörtlich, schaute zum Fenster hinaus, sah die beiden Kinder barfuß im sonnenheißen Gemüsegarten und hatte den Eindruck, daß sie erst seit diesem Augenblick, erschaffen durch Ursulas Beschwörung, auf der Welt waren. Nun geschah etwas in seinem Innern; etwas Geheimnisvolles und Endgültiges, das ihn der augenblicklichen Zeit entriß und ihn in ein unerforschtes Gebiet seiner Erinnerungen hinabtrieb. Während Ursula ihr Haus weiterfegte in der Gewißheit, es für den Rest ihres Lebens nicht mehr zu verlassen, betrachtete er noch immer gedankenverloren seine Kinder, bis ihm die Augen feucht wurden, die er, einen tiefen Seufzer ausstoßend, mit dem Handrücken trocknete.
    »Gut«, sagte er. »Sag ihnen, sie sollen kommen und mir beim Auspacken der Kisten helfen.«
    José Arcadio, der ältere der beiden Knaben, hatte soeben das vierzehnte Jahr erreicht. Er besaß den viereckigen Schädel, das widerborstige Haar und den Eigensinn seines Vaters. Wenn auch der gleiche Drang nach Wachstum und Körperkraft in ihm wohnte, so zeigte sich schon jetzt, daß er der Einbildungskraft entbehrte. Er war während der mühseligen Überschreitung der Sierra, noch vor der Gründung Macondos, gezeugt und geboren worden, und seine Eltern wußten dem Himmel Dank bei der Feststellung, daß er kein einziges tierisches Organ aufwies. Aureliano, das erste Menschenwesen, das in Macondo geboren wurde, sollte im März das sechste Lebensjahr vollenden. Er war still und in sich gekehrt. Er hatte im Leib seiner Mutter geweint und wurde mit geöffneten Augen geboren. Während man ihm die Nabelschnur abschnitt, bewegte er den Kopf hin und her, erkannte die Dinge des Zimmers und musterte die Gesichter der Menschen mit einer Neugier ohne Staunen. Dann, gleichgültig gegen die, welche näher traten, um ihn kennenzulernen, blickte er aufmerksam auf zur Decke aus Palmblättern, die unter dem gewaltigen Druck des Regens einzustürzen drohte. Ursula erinnerte sich erst wieder an die Eindringlichkeit dieses Blicks, als der kleine Aureliano eines Tages, dreijährig, in dem Augenblick in die Küche trat, als sie einen Topf mit siedender Suppe vom Feuer nahm und auf den Tisch stellte. Der Junge blieb verblüfft an der Tür stehen und sagte: »Gleich fällt er 'runter.« Der Topf stand genau in der Mitte des Tischs, doch kaum hatte der Junge seine Ankündigung ausgesprochen, bewegte er sich auch schon, wie getrieben von innerer Schwungkraft, unwiderstehlich auf den Tischrand zu und zerschellte am Boden. Bestürzt erzählte Ursula das Geschehen ihrem Mann, doch dieser deutete es als natürliche Erscheinung. So war er immer, Weiten entfernt vom Dasein seiner
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