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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Rebeca in den ersten Zeiten des Hauses gesessen, um Strickunterricht zu geben, in dem Amaranta mit Oberst Gerineldo Márquez chinesische Dame gespielt und in dem Amaranta Ursula die Babywäsche des Kindes genäht hatte, und in diesem Blitz der Hellsicht wurde ihm bewußt, wie unfähig seine Seele war, die erdrückende Last von so viel Vergangenheit zu ertragen. Verwundet von den Todesspeeren eigener und fremder Sehnsüchte, bewunderte er die Furchtlosigkeit der Spinngewebe auf den toten Rosensträuchern, die Beharrlichkeit des Unkrauts, die Geduld der Luft im strahlenden Februarmorgen. Und dann sah er das Kind. Es war eine geblähte, dürre Haut, die alle Ameisen der Welt auf dem Steinpfad des Gartens mühsam zu ihrem Bau schleppten. Aureliano konnte sich nicht rühren. Nicht, weil Verblüffung ihn gelähmt hätte, sondern weil sich ihm in diesem wundersamen Augenblick Melchíades' endgültige Schlüssel offenbarten, und nun sah er das Epigraph der Pergamente vor sich, folgerichtig eingeordnet in Zeit und Raum der Menschen: Der erste der Sippe wird an einen Baum gebunden, und den letzten werden die Ameisen fressen.
    Nie in seinem Leben hatte Aureliano so hellsichtig gehandelt wie jetzt, da er seine Toten und den Schmerz seiner Toten vergaß und die Türen und die Fenster wieder mit Fernandas Querbalken verschloß, um sich von keiner Versuchung der Welt stören zu lassen, denn jetzt wußte er, daß in Melchíades' Pergamenten sein Schicksal geschrieben stand. Er fand sie unbeschädigt zwischen den prähistorischen Pflanzen und den dampfenden Pfützen und den leuchtenden Insekten, die aus dem Zimmer jede Spur menschlicher Vergangenheit auf Erden getilgt hatten; er hatte aber nicht die Ruhe, sie hinaus ans Licht zu tragen, sondern dort, stehend, begann er sie ohne die geringste Schwierigkeit laut zu entziffern, als seien sie im blendenden Glanz des Mittagslichts spanisch geschrieben. Es war die von Melchíades hundert Jahre vorausgesehene, bis in die belanglosesten Einzelheiten abgefaßte Familiengeschichte. In Sanskrit, seiner Muttersprache, hatte er sie niedergeschrieben und die gleichen Verse mit dem Privatschlüssel des Kaisers Augustus, die ungleichen mit lazedämonischen Militärschlüsseln chiffriert. Die letzte Schutzschicht, die Aureliano zu durchschauen begann, als er sich von Amaranta Ursulas Liebe verwirren ließ, fußte darauf, daß Melchíades die Fakten nicht in der althergebrachten Zeit der Menschen angeordnet, sondern daß er ein Jahrhundert alltäglicher Episoden vereinigt hatte, so daß sie alle gleichzeitig existierten. Gefesselt von dem Fund, las Aureliano mit lauter Stimme, ohne eine Zeile zu überspringen, die gesungenen Enzykliken, die Melchíades persönlich Arcadio vorgetragen hatte und die in Wirklichkeit die Voraussagen ihrer Ausführung waren, und so fand er auch die Geburt der schönsten Frau der Welt, die mit Leib und Seele zum Himmel auffuhr, angekündigt und lernte den Ursprung der nachgeborenen Zwillinge kennen, die darauf verzichteten, die Pergamente zu enträtseln, und zwar nicht nur aus Unfähigkeit und Unbeständigkeit, sondern weil ihre Versuche verfrüht gewesen wären. Hier machte Aureliano in seiner Ungeduld, seinen eigenen Ursprung kennenzulernen, einen Sprung. Nun kam der Wind auf, mild, tastend, voll von Stimmen der Vergangenheit, vom Geflüster uralter Geranien, vom Geseufze der noch vor den hartnäckigsten Sehnsüchten erlebten Enttäuschungen. Er nahm ihn nicht wahr, weil er in diesem Augenblick die ersten Anzeichen seines Seins in einem lüsternen Großvater entdeckte, der sich von der Leichtfertigkeit eines betörten Hochlands mitreißen ließ, auf der Suche nach einer schönen Frau, die er nicht glücklich machen würde. Aureliano erkannte ihn, verfolgte die dunklen Pfade seiner Herkunft und stieß auf den Augenblick seiner eigenen Zeugung zwischen den Rohrdommeln und den gelben Faltern eines Dämmerbades, wo ein Arbeiter seine Geilheit mit einer Frau befriedigte, die sich ihm aus Auflehnung ergab. Er war so versunken, daß er auch den zweiten Ansturm des Windes nicht merkte, dessen Zyklonengewalt Türen und Fenster aus den Angeln riß, das Dach der Westgalerie abdeckte und die Grundmauern entwurzelte. Erst jetzt entdeckte er, daß Amaranta Ursula nicht seine Schwester war, sondern seine Tante und daß Francis Drake Riohacha nur überfallen hatte, damit sie sich in den verwickelsten Labyrinthen des Bluts suchen konnten, bis das mythologische Tier gezeugt war, das der
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