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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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schwächen vermocht. »Scheiße«, sagte sie immer lachend, »wer hätte gedacht, daß wir am Ende wie Menschenfresser leben würden!« Das letzte Band, das sie mit der Welt verknüpfte, riß im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft, als sie einen Brief erhielten, der offensichtlich nicht von dem katalanischen Weisen stammte. Er war in Barcelona aufgegeben, doch der mit Beamtenschrift in der üblichen blauen Tinte adressierte Umschlag machte den harmlosen, unpersönlichen Eindruck einer feindlichen Mitteilung. Aureliano entriß ihn Amaranta Ursula, die ihn erbrechen wollte. »Diesen nicht!« sagte er. »Ich will nicht wissen, was darin steht.« Es war, wie er es vorausgesagt hatte: Der katalanische Weise schrieb nie wieder. Der fremde Brief, den niemand las, fiel den Motten zum Opfer auf dem Bord, auf dem Fernanda ihren Ehering hatte liegenlassen, und dort verzehrte er sich im Feuer seiner schlimmen Nachricht, während das einsame Liebespaar gegen die Strömung jener letzten Jahre ankämpfte, ruheloser, heilloser Zeiten, die im fruchtlosen Bemühen zergingen, die beiden bis in die Wüste der Entzauberung und des Vergessens zu verdrängen. Dieser Bedrohung bewußt, verbrachten Aureliano und Amaranta Ursula die letzten Monate, einander an der Hand haltend und den Sohn, das in der Tollheit der Unzucht begonnene Kind, mit der Liebe der Treue beendend. Nachts umarmt im Bett liegend, ließen sie sich nicht durch die sublunaren Explosionen der Ameisen schrecken, nicht durch das Getöse der Motten, nicht durch das unablässige, deutliche Pfeifen des wachsenden Unkrauts in den Nachbarzimmern. Mehrmals wurden sie vom fieberhaften Treiben der Toten geweckt. Sie hörten Ursula, die gegen die Gesetze der Schöpfung stritt, um die Sippe zu erhalten, sie hörten José Arcadio Buendía, der auszog auf die schimärische Suche nach großen Erfindungen, sie hörten, wie Fernanda betete, wie Oberst Aureliano Buendía bei Kriegslisten und goldenen Fischchen verrohte, sowie Aureliano Segundo, der in der Betäubung der Ausschweifungen vor Einsamkeit dahinsiechte, und nun lernten sie, daß die beherrschenden Besessenheiten den Tod überwinden, und wieder wurden sie glücklich in der Gewißheit, daß sie sich weiterhin in ihrer Natur als Gespenster lieben würden, lange nachdem andere Arten künftiger Tiere den Insekten das Elendparadies entrissen haben würden, das eben diese Insekten vollends den Menschen entrissen.
    Eines Sonntags um sechs Uhr nachmittags bekam Amaranta Ursula Wehen. Die lächelnde Hebamme der kleinen Mädchen, die aus Hunger mit Männern zu Bett gingen, ließ sie auf den Eßtisch steigen, dann setzte sie sich rittlings auf ihren Bauch und galoppierte wild auf ihr herum, bis ihr Geschrei durch das Geheul eines prächtigen Jungen zum Verstummen gebracht wurde. Durch Tränen sah Amaranta Ursula, daß es ein Buendía von den Großen war, massiv und eigensinnig wie die José Arcadios, mit den offenen, hellsichtigen Augen der Aurelianos und bereit, die Sippe von neuem ganz am Anfang zu beginnen und sie von ihren schädlichen Lastern und ihrer Neigung zur Einsamkeit zu läutern, da er als einziger in einem Jahrhundert mit Liebe gezeugt worden war.
    »Er ist ganz und gar ein Menschenfresser«, dachte sie. »Er soll Rodrigo heißen.«
    »Nein«, widersprach ihr Mann. »Er soll Aureliano heißen und zweiunddreißig Kriege gewinnen.«
    Nachdem sie die Nabelschnur durchgeschnitten hatte, wischte die Hebamme ihm mit einem Lappen den bläulichen Schleim vom Leib, während Aureliano mit einer Lampe leuchtete. Erst als sie ihn auf den Bauch legten, merkten sie, daß er mehr besaß als die übrigen Menschen, und beugten sich prüfend über ihn. Es war ein Schweineschwanz.
    Sie machten sich keine Sorgen. Aureliano und Amaranta Ursula wußten nichts von dem Präzedenzfall in der Familie, erinnerten sich auch nicht an Ursulas schreckliche Ermahnungen, außerdem beruhigte die Hebamme sie mit der Vermutung, das überflüssige Schwänzchen könne abgeschnitten werden, sobald das Kind die Milchzähne verliere. Sie fanden auch keine Gelegenheit mehr, davon zu sprechen, denn Amaranta Ursula bekam gleich darauf fürchterliche Blutungen. Man versuchte diese mit Spinnwebkompressen und Aschenbelag zu dämmen, doch es war, als wolle man einem Springbrunnen mit der Hand Einhalt gebieten. In den ersten Stunden gab sie sich alle Mühe, ihre gute Laune zu bewahren. Sie faßte den erschrockenen Aureliano an der Hand und flehte ihn an, sich nicht aufzuregen,
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