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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Unsicherheit der Zukunft ließ ihre Herzen in die Vergangenheit blicken. Nun sahen sie sich wieder im verlorenen Paradies der Sintflut, wie sie durch den Sumpf des Innenhofs stapften, Eidechsen tötend, um sie Ursula anzuhängen, lebend begraben mit ihr spielend, und dieses Heraufrufen offenbarte ihnen die Wahrheit, daß sie glücklich zusammen gewesen waren, so weit sie zurückdenken konnten. Tiefer ins Vergangene grabend, besann Amaranta Ursula sich auf den Nachmittag, an dem sie in die Silberschmiedewerkstatt gegangen war und ihre Mutter ihr erzählt hatte, der kleine Aureliano sei ein Niemandssohn, weil er in einem Körbchen schwimmend gefunden worden war. Wenngleich die Lesart ihnen unglaubwürdig vorkam, fehlte es ihnen jedoch an Nachrichten, mit denen sie die falsche hätten ersetzen können. Nach Prüfung aller Möglichkeiten stand für sie nur fest, daß Fernanda nicht Aurelianos Mutter war. Amaranta Ursula neigte zu der Auffassung, er sei der Sohn von Petra Cotes, von der sie nur niederträchtige Dinge in der Erinnerung bewahrte, und diese Vermutung löste in ihrer Seele Höllenqualen aus.
    Von der Gewißheit gemartert, ein Bruder seiner Frau zu sein, schlich Aureliano eines Tages in das Pfarrhaus, um in den muffigen, mottenzerfressenen Archiven eine sichere Spur seiner Herkunft zu finden. Die älteste Taufurkunde, die er fand, war die Amaranta Buendías, die in ihrer Jugend von Pater Nicanor Reyna zu einer Zeit getauft worden war, als dieser die Existenz Gottes mittels Schokoladekunststückchen zu beweisen suchte. Er spielte sogar mit der Möglichkeit, einer der siebzehn Aurelianos zu sein, deren Geburtsurkunden er durch vier Bände hindurch nachspürte, doch die Taufdaten lagen für sein Alter zu weit zurück. Da er ihn zitternd vor Ungewißheit in den Labyrinthen des Bluts umherirren sah, fragte der gichtige Landpfarrer, der ihn von seiner Hängematte aus beobachtete, mitleidig, wie sein Name sei.
    »Aureliano Buendía«, sagte er.
    »Dann brauchst du dich nicht mehr mit Suchen umzubringen«, rief der Pfarrer mit unerschütterlicher Überzeugung aus. »Vor vielen Jahren gab es hier eine Straße, die so hieß, und damals hatten die Leute die Gewohnheit, ihre Söhne nach den Straßennamen zu nennen.«
    Aureliano zitterte vor Wut.
    »Ah!« sagte er. »Dann glauben Sie auch nicht daran?«
    »Woran?«
    »Daß Oberst Aureliano Buendía zweiunddreißig Bürgerkriege führte und alle verlor«, erwiderte Aureliano. »Daß das Heer dreitausend Arbeiter zusammentrieb und niedermähte und daß die Leichen in einem Güterzug von zweihundert Wagen abtransportiert und ins Meer geworfen wurden.«
    Der Pfarrer maß ihn mit mitleidigem Blick.
    »Ach, mein Sohn«, seufzte er. »Mir würde es schon genügen, wenn ich sicher wüßte, daß du und ich in diesem Augenblick existieren.«
    So machten sich denn Aureliano und Amaranta Ursula die Lesart des Weidenkörbchens zu eigen, nicht weil sie daran glaubten, sondern weil diese sie vor ihren Ängsten beschützte. Je weiter ihre Schwangerschaft fortschritt, desto mehr wurden beide zu einem einzigen Wesen und verschmolzen mit der Einsamkeit eines Hauses, dem ein einziger Atemstoß fehlte, um einzustürzen. Sie hatten sich auf einen Hauptraum beschränkt, auf Fernandas Schlafzimmer, wo sie den Zauber der seßhaften Liebe ahnten, bis zum Anfang der Veranda, wo Amaranta Ursula saß, um für das Neugeborene Schühchen und Hütchen zu stricken, und wo Aureliano die gelegentlichen Briefe des katalanischen Weisen beantwortete. Das übrige Haus ergab sich willenlos dem hartnäckigen Ansturm der Vernichtung. Die Silberschmiede, Melchíades' Kammer, das primitive, schweigsame Reich Santa Sofías von der Frömmigkeit, sie alle versanken in der Tiefe eines häuslichen Urwaldes, den kein Mensch zu entwirren gewagt hätte. Umringt von der Gefräßigkeit der Natur, pflegten Aureliano und Amaranta Ursula weiterhin Oregano und die Begonien und verteidigten ihre Welt mit Trennlinien aus Kalk, sie gruben die letzten Schützengräben des unvordenklichen Krieges zwischen Mensch und Ameise. Ihr langes, ungepflegtes Haar, der im Gesicht zutage tretende Blutandrang, die Schwellungen der Beine, die Entstellungen des einst so liebestollen Wieselleibes hatten Amaranta Ursulas jugendliche Erscheinung aus der Zeit, als sie mitsamt dem Käfig und seinen unglücklichen Kanarienvögeln und ihrem gefangenen Ehemann ins Haus gekommen war, verändert, doch die Lebhaftigkeit ihres Geistes hatten sie nicht zu
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