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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Menschen wie sie seien nicht geschaffen, gegen ihren Willen zu sterben, und sie schüttelte sich vor Lachen über die angestrengten Bemühungen der Hebamme. Doch je mehr Aurelianos Hoffnungen schwanden, desto weniger sichtbar wurde sie, als wische man sie aus dem Licht, bis sie in tiefe Betäubung sank. Am Montag im Morgengrauen holten sie ein Weib, das am Bett Ätzgebete aufsagte, die sich bei Mensch und Tier als unfehlbar erwiesen hatten, doch Amarantas leidenschaftliches Blut war gegen jeden Kunstgriff, der nicht die Liebe war, unempfindlich. Nachmittags, nach vierundzwanzig Stunden der Verzweiflung wußte man, daß sie tot war, weil der Blutstrom ohne Eingriff versiegte. Ihr Profil wurde feiner, und die Röte ihres Gesichts wich einer alabasterfarbenen Morgenröte, und sie lächelte von neuem.
    Erst jetzt dämmerte es Aureliano, wie sehr er seine Freunde liebte, wie sehr sie ihm fehlten und was er dafür gegeben hätte, in diesem Augenblick bei ihnen zu sein. Er legte das Kind in das Körbchen, das dessen Mutter dafür zurechtgemacht hatte, breitete eine Decke über das Gesicht des Leichnams und irrte ziellos durch das verlassene Dorf, auf der Suche nach einem Rückweg in die Vergangenheit. Er klopfte an die Tür der Apotheke, die er lange nicht mehr besucht hatte, und fand statt ihrer eine Schreinerwerkstatt. Die Alte, die mit einer Lampe in der Hand öffnete, empfand Mitleid mit seiner verstörten Miene, sagte aber immer wieder: nein, hier sei nie eine Apotheke gewesen, sie habe auch keine Frau mit schlankem Hals und schläfrigen Augen namens Mercedes gekannt. Weinend lehnte er die Stirn gegen die Tür der alten Buchhandlung des katalanischen Weisen, und jetzt war er sich bewußt, daß er für einen Tod, den er nicht zu seiner Zeit hatte beweinen wollen, um nicht den Zauber der Liebe zu brechen, nachträglich den Zoll der Tränen zahlte. Er riß sich die Fäuste an den mörtelrauhen Mauern von Das Goldene Kind wund und rief klagend nach Pilar Ternera, gleichgültig gegen die orangefarbenen Lichtscheiben, die am Himmel kreisten und die er in Festnächten vom Innenhof der Rohrdommeln aus so oft mit knabenhaftem Entzücken betrachtet hatte. In der letzten noch offenen Tanzdiele des zerfallenen Vergnügungsviertels spielte eine Akkordeonkapelle die Lieder Rafael Escalonas, des Neffen des Bischofs, des Erben der Geheimnisse von Francisco-der-Mann. Der Schenkwirt, der einen verdorrten, wie versengten Arm besaß, weil er ihn gegen seine Mutter erhoben hatte, lud Aureliano ein, eine Flasche Branntwein mit ihm zu trinken, und Aureliano seinerseits lud ihn zu einer zweiten ein. Der Schenkwirt erzählte ihm vom Elend seines Arms. Aureliano erzählte ihm vom Elend seines Herzens, das verdorrt war und wie versengt, weil er es gegen seine Schwester erhoben habe.
    Schließlich weinten beide gemeinsam, und Aureliano fühlte einen Augenblick, daß der Schmerz verschmerzt war. Doch als er im letzten Morgengrauen Macondos wieder allein war, breitete er mitten auf dem Dorfplatz die Arme aus, gewillt, die ganze Welt zu wecken, und schrie aus voller Seele:
    »Freunde sind Hurensöhne!«
    Nigromanta zerrte ihn aus einer Lache von Erbrochenem und Tränen. Schleppte ihn in ihre Kammer mit, säuberte ihn und gab ihm eine Tasse Fleischbrühe zu trinken. Im Glauben, das könne ihn trösten, tilgte sie mit einem Kohlestrich die ungezählten Liebesnächte, die er ihr noch schuldete, und rief absichtlich ihre einsamsten Traurigkeiten herauf, um ihn nicht allein weinen zu sehen.
    Bei Tagesanbruch, nach kurzem, dumpfem Schlaf, fielen Aureliano wieder seine Kopfschmerzen ein. Er öffnete die Augen und dachte an seinen Sohn.
    Er fand ihn nicht im Korb. Mitten im ersten Schock flammte plötzlich Freude in ihm auf in der Annahme, Amaranta Ursula sei vom Tode erwacht, um das Kind zu umhegen. Doch ihr Leichnam war ein steinerner Felsvorsprung unter der Decke. Wohl wissend, daß er bei seiner Ankunft die Schlafzimmertür offen vorgefunden hatte, durchschritt Aureliano die von den morgendlichen Seufzern des Oregano gesättigte Veranda und blickte ins Eßzimmer, wo noch die Trümmer der Niederkunft lagen: die große Schüssel, die blutigen Laken, die Ascheneimer sowie neben Schere und Binden auf einer auf dem Tisch ausgebreiteten Windel die verkrümmte Nabelschnur des Knaben. Der Gedanke, die Hebamme habe das Kind womöglich im Lauf der Nacht geholt, gab ihm eine Weile Ruhe zum Nachdenken. Er ließ sich in den Schaukelstuhl fallen, denselben, in dem
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