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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Winternächten, während die Suppe auf dem Herd siedete, sehnte er die Hitze seines Hinterstübchens, das Summen der Sonne in den staubigen Mandelbäumen, das Pfeifen des Zuges in der betäubenden Mittagshitze ebenso heftig herbei, wie er sich in Macondo nach der Wintersuppe auf dem Herd gesehnt hatte, nach dem Ausrufen des Kaffeeverkäufers und den flüchtenden Schwalben im Frühling. Eingekeilt zwischen zwei Sehnsüchten wie zwischen zwei Spiegeln, verlor er seinen wunderbaren Sinn für die Unwirklichkeit, bis er schließlich allen empfahl, Macondo zu verlassen und alles zu vergessen, was er sie von der Welt und vom menschlichen Herzen gelehrt hatte, auf Horaz zu scheißen, immer und überall daran zu denken, daß die Vergangenheit Lüge sei, daß das Gedächtnis keinen Rückweg kenne, daß jeder alte Frühling unwiderbringlich sei und die wahnsinnigste hartnäckigste Liebe auf jeden Fall eine vergängliche Wahrheit.
    Alvaro befolgte als erster den Rat, Macondo zu verlassen. Er verkaufte alles, sogar den gefangenen Tiger, der sich im Innnenhof seines Hauses über die Vorübergehenden lustig machte, und kaufte einen Dauerfahrschein für einen Zug, dessen Fahrt nie zu Ende ging. Auf den Postkarten, die er von seinen Zwischenstationen absandte, beschrieb er großspurig die Augenblicksbilder, die er vom Zugfenster aus gesehen hatte, und es war, als schleuderte er das lange Gedicht der Vergänglichkeit schnipselweise dem Vergessen zu: die schimärischen Neger der Baumwollfelder von Louisiana, die geflügelten Pferde auf der blauen Weide von Kentucky, die griechischen Liebespaare im teuflischen Abenddämmerschein von Arizona, das Mädchen im roten Sweater, das an den Seen von Michigan Aquarelle malte und ihm mit ihren Pinseln ein Adieu zuwinkte, das kein Abschieds-, sondern ein Hoffnungslebewohl war, weil sie nicht wußte, daß sie einem Zug ohne Wiederkehr nachsah. Dann reisten eines Samstags auch Alfonso und Germán ab, zwar in der Absicht, am Montag wiederzukommen, doch zu guter Letzt hörte man nie mehr ein Wort von ihnen. Ein Jahr nach der Abreise des katalanischen Weisen war nur noch Gabriel in Macondo übrig, noch immer aufs Geratewohl dahinlebend und Nigromantas zufälliger Wohltätigkeit ausgeliefert, während er die Wettbewerbsfragebögen einer französischen Zeitschrift ausfüllte, deren erster Preis eine Reise nach Paris war. Aureliano, der die Nummern erhielt, half ihm beim Ausfüllen der Formulare, bisweilen in seinem Haus, doch fast immer zwischen den Porzellanflakons und dem Baldrianduft der einzigen Apotheke, die es noch in Macondo gab und in der Mercedes, Gabriels heimliche Verlobte, wohnte. Er war der einzige Überlebende einer Vergangenheit, deren Vernichtung sich nicht vollzog, weil sie sich endlos vernichtete, in sich selbst verzehrte, in jeder Minute aufhörte, doch ohne aufzuhören, jemals aufzuhören. Das Dorf hatte ein derartiges Ausmaß der Untätigkeit erreicht, daß, als Gabriel den Wettbewerb gewann und mit zweifacher Wäsche zum Wechseln, einem Paar Schuhe und Rabelais' Gesammelten Werken nach Paris fuhr, er dem Lokomotivführer winken mußte, damit der Zug hielt und ihn einsteigen ließ. Die alte Türkenstraße war damals ein verlassener Winkel, wo die letzten Araber sich von ihrer tausendjährigen Gewohnheit, vor der Türe zu hocken, dem Tod entgegenführen ließen, selbst wenn sie vor vielen Jahren das letzte Yard Schrägstreifen verkauft hatten und in den dunklen Schaufenstern nur die geköpften Modepuppen übrig waren. Die Stadt der Bananengesellschaft, von der Patricia Brown ihren Enkeln vielleicht an den Abenden der Intoleranz und der Essiggurken in Prattville, Alabama, erzählen mochte, war nun eine buschbedeckte Ebene. Der greise Pfarrer, der Pater Angel abgelöst hatte und dessen Name festzustellen sich niemand die Mühe gab, wartete, auf seinem Schmerbauch in einer Hängematte ausgestreckt, von Nervenschmerzen und der Schlaflosigkeit des Zweifels gequält, auf Gottes Güte, während die Eidechsen und Ratten sich um das Erbe des benachbarten Gotteshauses stritten. In jenem sogar von den Vögeln vergessenen Macondo, wo der Staub und die Hitze so hartnäckig geworden waren, daß sogar das Atmen schwerfiel, waren Aureliano und Amaranta Ursula, eingeschlossen von Einsamkeit und Liebe und von der Einsamkeit der Liebe in einem Haus, wo Schlafen infolge des Getöses der bunten Ameisen fast eine Unmöglichkeit war, die einzigen glücklichen Wesen und die glücklichsten auf der
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