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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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hatte auch die Straßen so geschickt gezogen, daß in der Stunde der größten Hitze kein Haus mehr Sonne empfing als ein anderes. In wenigen Jahren war Macondo das ordentlichste und arbeitsamste Dorf von all denen, die seine dreihundert Einwohner bisher gekannt hatten. Es war wahrlich ein glücklicher Ort, in dem niemand älter als dreißig Jahre und in dem noch niemand gestorben war.
    Seit den Tagen der Gründung baute José Arcadio Buendía Fallen und Käfige. In kurzer Zeit füllte er nicht nur sein eigenes Haus, sondern auch alle anderen des Dorfes mit Turpialen, Kanarienvögeln, Meisen und Rotkehlchen. Das Konzert so vieler verschiedener Vögel wurde jedoch so betäubend, daß Ursula sich die Ohren mit Bienenwachs zustopfen mußte, um nicht den Sinn für die Wirklichkeit zu verlieren. Das erste Mal, als die Sippe des Melchíades erschien und Glaskugeln gegen Kopfschmerzen feilbot, war jedermann überrascht, daß sie das im brütenden Sumpfland verirrte Dorf hatte finden können, worauf die Zigeuner gestanden, Vogelgesang hätte sie geleitet.
    Doch dieser fortschrittliche Gemeinsinn wurde in kurzer Zeit vom Fieber der Magnete, der astronomischen Berechnungen, der Verwandlungsträume und der Begierde, die Wunder der Welt kennenzulernen, verdrängt. Aus einem unternehmungslustigen, säuberlichen Mann verwandelte sich José Arcadio Buendía in einen nachlässig gekleideten Müßiggänger mit wildem Bart, den Ursula nur mühsam mit einem Küchenmesser zu stutzen vermochte. Es fehlten auch nicht solche, die ihn für das Opfer eines absonderlichen Zauberspuks hielten. Doch selbst die von seinem Wahnwitz Überzeugtesten verließen Arbeit und Familie, um ihm zu folgen, als er seine Holzfällerwerkzeuge schulterte und alle anderen aufforderte, beim Schlagen einer Schneise mitzuwirken, die Macondo mit der Welt der großen Erfindungen verbinden würde.
    José Arcadio Buendía tappte über die Geographie der Umgebung völlig im dunkeln. Er wußte zwar, daß gen Osten die undurchdringliche Sierra lag und dahinter die alte Stadt Riohacha, in der in vergangenen Zeiten — nach den Erzählungen des ersten Aureliano Buendía, seines Großvaters — Sir Francis Drake sich damit ergötzt hatte, mit Kanonen auf Kaimane zu schießen, die er flicken und mit Stroh ausstopfen ließ, um sie der Königen Elisabeth mitzubringen. In seiner Jugend hatten er und seine Männer mit Frauen, Kindern, Tieren und aller Art von Hausgerät die Sierra auf der Suche nach einem Zugang zum Meer überschritten, hatten jedoch nach sechsundzwanzig Monaten die Unternehmung aufgegeben und Macondo gegründet, um nicht den Rückweg antreten zu müssen. Denn das war eine Strecke, die sie nicht mehr lockte, da sie nur in die Vergangenheit führen konnte. Im Süden lagen die von einem ewigen Pflanzenschleim überzogenen Sümpfe sowie das weite Weltall des großen Moors, das nach der Zeugenaussage der Zigeuner grenzenlos war. Das große Moor verschwamm im Westen mit einer unübersehbaren Wasserfläche, in der zarthäutige Wale mit weiblichem Kopf und Oberkörper hausten, welche die Seefahrer mit dem Zauber ihrer außergewöhnlichen Brüste ins Verderben lockten. Die Zigeuner segelten sechs Monate auf dieser Route, bevor sie den Festlandgürtel erreichten, auf dem die Mauleselpost verkehrte. Nach José Arcadio Buendías Berechnungen bestand die einzige Möglichkeit, mit der Zivilisation in Verbindung zu kommen, in der Nordroute. Somit versah er eben jene Männer, die ihn auf dem Gründungszug von Macondo begleitet hatten, mit Rodewerkzeugen und Jagdwaffen; seine Orientierungsinstrumente und Landkarten verwahrte er in einem Quersack und unternahm das kühne Abenteuer.
    Während der ersten Tage stießen sie auf kein nennenswertes Hindernis. Sie marschierten auf dem steinigen Ufer flußabwärts bis zu der Stelle, an der sie Jahre zuvor die Ritterrüstung gefunden hatten, und betraten auf einem von Waldorangenbäumen gesäumten Saumpfad den Urwald. Nach Ablauf der ersten Woche erlegten und brieten sie einen Hirsch, beschlossen jedoch nur die Hälfte davon zu essen und den Rest für die nächsten Tage zu pökeln. Mit dieser Vorsichtsmaßnahme gedachten sie den Zeitpunkt hinauszuschieben, von dem an sie sich wieder von Guacamayas ernähren mußten, deren bläuliches Fleisch aufreizend nach Moschus schmeckte. Dann sahen sie über zehn Tage lang keinen Sonnenstrahl. Der Erdboden wurde wieder weich und feucht wie vulkanische Asche, der Pflanzenwuchs immer heimtückischer,
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