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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Kinder, teils, weil er die Kindheit als Zeit geistiger Unzulänglichkeit ansah, teils, weil er stets viel zu versponnen war in seine eigenen grillenhaften Grübeleien.
    Doch seit dem Nachmittag, an dem er seine Kinder rief, damit sie ihm beim Auspacken seiner Laboratoriumsgegenstände helfen sollten, widmete er ihnen seine besten Stunden. In der abgelegenen Kammer, deren Wände sich nach und nach mit unwahrscheinlichen Landkarten und fabelhaften Zeichnungen bedeckten, lehrte er sie Lesen, Schreiben und Rechnen und erzählte ihnen von den Wundern der Welt, doch nicht nur, soweit seine Kenntnisse reichten, sondern indem er die Grenzen seiner Phantasie bis zu einem unglaublichen Übermaß ausdehnte. So kam es, daß die Knaben zu guter Letzt lernten, im äußersten Süden Afrikas wohnten so kluge und friedliche Menschen, daß ihre einzige Kurzweil im Dasitzen und Denken bestehe und daß es möglich sei, das Ägäische Meer von Insel zu Insel hüpfend bis zum Hafen Saloniki zu überqueren. Diese betörenden Sitzungen blieben derart im Gedächtnis der Knaben haften, daß der Oberst Aureliano Buendía viele Jahre später, eine Sekunde bevor der Offizier der regulären Streitkräfte dem Erschießungskommando den Befehl zum Feuern gab, wieder den milden Märznachmittag durchlebte, an dem sein Vater die Physikstunde unterbrach und gebannt mit erhobener Hand und reglosen Augen dem fernen Pfeifen, Trommeln und Schellen der Zigeuner lauschte, die wieder einmal ins Dorf kamen, um die letzte überwältigende Entdeckung der Weisen von Memphis zu verkünden.
    Es waren neue Zigeuner. Junge Männer und Frauen, die nur ihre eigene Sprache sprachen, schöne Menschenkinder mit olivfarbener Haut und klugen Händen, deren Tänze und Musik auf den Straßen einen Wirbel ausgelassenster Fröhlichkeit entfesselten. Und sie kamen mit ihren buntgefleckten Papageien, die italienische Romanzen aufsagten, mit ihrem Huhn, das zum Klang des Tamburins hundert goldene Eier legte, mit ihrem abgerichteten Affen, der Gedanken lesen konnte, mit der Allerweltsmaschine, die zur gleichen Zeit Knöpfe anzunähen und das Fieber zu senken verstand, und mit dem Apparat zum Vergessen von Erinnerungen, mit dem Pflaster zum Auslöschen der Zeit und mit tausend anderen Erfindungen, so sinnreich und ungewöhnlich, daß José Arcadio Buendía die Gedächtnismaschine hätte erfinden mögen, um sich an alle zu erinnern. Im Handumdrehen verwandelten sie das Dorf. Die Bewohner Macondos, von dem kurzweiligen Jahrmarkt benommen, kannten sich plötzlich in ihren eigenen Straßen nicht mehr aus.
    Einen Jungen an jeder Hand fassend, um sie nicht in dem Getümmel zu verlieren, gegen Gaukler mit goldplombierten Zähnen und sechsarmige Verrenkungskünstler rennend, erstickt vom Geruchsgemisch aus Mist und Sandelholz, das die Menge verströmte, suchte José Arcadio Buendía wie ein Wahnsinniger überall nach Melchíades, damit dieser ihm die unbegrenzten Geheimnisse jenes fabelhaften Alptraums enthülle. Er wandte sich an verschiedene Zigeuner, die seine Sprache nicht verstanden. Endlich kam er an den Platz, an dem Melchíades gewöhnlich sein Zelt aufspannte, und fand einen wortkargen Armenier, der ihm auf spanisch einen Sirup zum Unsichtbarmachen anbot. Er hatte soeben ein Glas des bernsteinfarbenen Stoffs mit einem Schluck geleert, als José Arcadio Buendía sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Gruppe bahnte, die versunken dem Schauspiel beiwohnte, und noch gerade seine Frage stellen konnte. Der Zigeuner umhüllte ihn mit seinem rätselhaften Blick, um sich alsbald in eine stinkende, dampfende Teerlache zu verwandeln, über der das Echo seiner Antwort schwebte: »Melchíades ist tot.« Über die Nachricht bestürzt, blieb José Arcadio Buendía regungslos stehen, bemüht, seinen Schmerz zu überwinden, bis die Menschenschar, von anderem Blendwerk angelockt, sich verlief und die Lache des wortkargen Armeniers zu nichts verdampfte. Später bestätigten ihm andere Zigeuner, Melchíades sei tatsächlich in Singapurs Dünen dem Fieber erlegen, und sein Leichnam sei an der tiefsten Stelle der Java-Bucht versenkt worden. Den Kindern war diese Nachricht gleichgültig. Sie waren wild darauf, vom Vater zu der vielversprechenden Neuigkeit der Weisen von Memphis mitgenommen zu werden, angekündigt am Eingang eines Zeltes, das laut Aussage einst König Salomon gehört hatte. Sie drängten so lange, bis José Arcadio Buendía die dreißig Reales zahlte und sie in die Mitte der Bude
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