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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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führte, wo ein Riese mit zottigem Oberkörper und glattgeschorenem Schädel, einem kupfernen Ring durch die Nase und schweren eisernen Ketten an den Fesseln eine Seeräubertruhe bewachte. Als der Riese den Deckel aufklappte, entströmte der Truhe eisiger Hauch. Drinnen lag nur ein mächtiger durchsichtiger Block, durchzogen von ungezählten Adern, in denen sich das Dämmerlicht in bunten Sternen brach. Wohl wissend, daß die Knaben eine sofortige Antwort erwarteten, brachte José Arcadio Buendía in seiner Verwirrung nur murmelnd hervor: »Das ist der größte Diamant der Welt.«
    »Nein«, verbesserte der Zigeuner. »Das ist Eis.«
    José Arcadio Buendía streckte verständnislos die Hand nach der Eisscholle aus, doch der Riese schob sie beiseite. »Weitere fünf Reales für das Berühren«, sagte er. José Arcadio Buendía zahlte sie, dann legte er die Hand auf das Eis und ließ sie mehrere Minuten darauf liegen, während sein Herz bei der Berührung des Geheimnisses vor Angst und Jubel schwoll. Ohne zu wissen, was er sagen sollte, zahlte er weitere zehn Reales, damit seine Söhne auch die wunderbare Erfahrung machen konnten. Der kleine José Arcadio weigerte sich, es zu berühren. Aureliano hingegen machte einen Schritt vorwärts, legte die Hand darauf und zog sie unverzüglich zurück. »Es kocht«, rief er erschrocken. Doch sein Vater achtete nicht auf ihn. Trunken von dem Beweis des Wunders, vergaß er in diesem Augenblick den Fehlschlag seiner Wahnunternehmungen und den dem Heißhunger der Kraken überlassenen Leichnam des Melchíades. Er zahlte weitere fünf Reales und, die Hand auf dem Eisblock ruhen lassend, rief er, als schwöre er bei der Heiligen Schrift:
    »Das ist die größte Erfindung der Welt.«
     

 
     
     
     
     
     
    Als im sechzehnten Jahrhundert der Seeräuber Francis Drake Riohacha überfiel, erschrak Ursulas Urgroßmutter dermaßen über Sturmläuten und Kanonendonner, daß sie die Nerven verlor und sich auf einen brennenden Herd setzte. Die Brandwunden machten sie für den Rest ihres Lebens zu einer untauglichen Ehefrau. Fortan konnte sie nur noch, gebettet auf Kissen, auf einer Seite sitzen, außerdem war wohl ihr Gang in Mitleidenschaft gezogen worden, da sie sich nie mehr gehend in der Öffentlichkeit zeigte. Von der Vorstellung besessen, ihr Körper verströme Brandgeruch, verzichtete sie nunmehr auf jede Art von Geselligkeit. Der Tagesanbruch überraschte sie im Innenhof, wo sie nicht zu schlafen wagte, da sie geträumt hatte, die Engländer brächen mit ihren wütenden Schweißhunden durch ihr Schlafzimmerfenster ein, um sie mit rotglühenden Eisen schamlosen Folterungen auszusetzen. Ihr Mann, ein Händler aus Aragonien, von dem sie zwei Kinder hatte, opferte seinen halben Kramladen für Arzneien und Zerstreuungen, um sie von ihren Schrecknissen zu heilen. Schließlich verkaufte er sein Geschäft und zog mit seiner Familie fort vom Meer in eine am Fuß der Sierra gelegene friedliche Indiosiedlung, wo er für seine Frau ein fensterloses Schlafzimmer baute, in das keine Alptraumpiraten eindringen konnten.
    In der abgelegenen Siedlung wohnte seit langer Zeit ein Tabak pflanzender Kreole, Don José Arcadio Buendía, mit dem Ursulas Urgroßvater eine so vorteilhafte Geschäftsverbindung einging, daß sie in wenigen Jahren ein Vermögen anhäuften. Mehrere Jahrhunderte später heiratete der Ururgroßenkel des Kreolen die Ururgroßenkelin des Aragoniers. Wenn daher Ursula über die Verrücktheiten ihres Mannes aus dem Häuschen geriet, übersprang sie dreihundert Jahre der Zufälligkeiten und verwünschte die Stunde, da Francis Drake Riohacha überfallen hatte. Damit wollte sie ihr Herz nur erleichtern, denn in Wirklichkeit waren sie durch ein stärkeres Band als die Liebe bis zum Tode miteinander verbunden: durch gemeinsame Gewissensbisse. Sie waren direkte Vettern. Gemeinsam waren sie aufgewachsen in der alten Siedlung, die beider Vorfahren mit ihrer Arbeit und ihrer anständigen Lebensführung in eines der blühendsten Dörfer der Provinz verwandelt hatten. Wenngleich ihre Eheschließung vorauszusehen gewesen war, als sie auf die Welt kamen, suchten ihre eigenen Verwandten diese zu vereiteln, als sie ihren Heiratswunsch kundtaten. Die Verwandten befürchteten, die beiden gesunden Sprosse zweier jahrhundertelang vermischter Geschlechter möchten zur allseitigen Schande Leguane zeugen. Es gab nämlich bereits einen entsetzlichen Präzedenzfall. Eine mit einem Onkel José Arcadio
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