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Hüttengaudi

Hüttengaudi

Titel: Hüttengaudi
Autoren: Nicola Förg
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Belohnung.
    Zumindest eins hatte Irmi am dritten Tag ihres Aufenthalts schon begriffen: Ihre Einstellung zum Essen würde sie ändern. Nicht mehr schnell im Stehen irgendwas in sich hineinschlingen, sondern sich Zeit nehmen. Essen war doch so schön.
    Weil die Tage so viel Leere boten, nahmen Irmi und Lissi natürlich die Freizeitangebote gerne an, beispielsweise eine Wanderung zur Alpe Mohr.
    »Wie weit ist es denn zu der Alm?«, fragte Irmi den Wanderführer.
    »Gnädige Frau, ich sehe, Sie stammen aus dem Oberbayerischen. Bei uns im Allgäu heißt das Alp oder Alpe.«
    Zweierlei verdarb Irmi den Tag: die Anrede »Gnädige Frau« und dieses »bei uns«, das in tiefstem Sächsisch vorgetragen wurde. Sehr ungnädig schlurfte Irmi deshalb dahin, zumal der Großteil des Weges auf Asphalt verlief.
    Die Lage der Alm, pardon Alpe, war wunderschön, so wie dieses ganze Allgäu überhaupt sehr schön war. Die Berge waren weniger erdrückend als bei ihr daheim. Das Auge konnte sich immer wieder an Fixpunkten festhalten: Höfen, Wiesenhängen, Waldstücken, Tümpeln und Seen. Die Landschaft stieg gefällig stufenförmig an: Sanfte Hügel gingen über in Vorberge, und am Horizont standen die Gipfel Spalier. Dieses Allgäu ist wie ein Aquarell, dachte Irmi. Kein schweres Ölgemälde wie das Karwendel.
    Oben angekommen, suchten sie sich einen Tisch, jemand trug einen Riesenberg Kaiserschmarrn vorbei, was Irmis Laune nicht gerade steigerte, und dann trat auch noch ein allein unterhaltender Ziehharmonikaspieler auf. Immerhin hatte sie ja schon gelernt, »dass ma im Allgäu isch, wenn d Schumpa scheener wia d Föhla sind«. Dabei standen Schumpa für Jungkühe und Föhla für junge Mädchen. Und außerdem sagten die hier »i bi gsi« für »ich bin gewesen« – und das klang in Irmis Ohr doch sehr Schwyzerdütsch.
    Der Kaiserschmarrnduft wehte herüber, der Mann sang von den »Blauen Bergen« – ein Albtraum. Irmi bestellte sich einen trockenen Wein. Kurwein war schließlich erlaubt. Gut, »das Viertele« hatte sie schon zu Mittag genossen, aber sei’s drum. Als hätte Lissi auf einen Startschuss gewartet, rief sie: »Dann bringen S’ doch gleich einen halben Liter.«
    Der Wein, der die Kehle in den leeren Magen hinunterrann, tat seine Wirkung. Und ja, sie nahmen noch einen halben Liter. »Mezzo litro für die Damen«, blökte der Sachse, bestimmte Tage erforderten einfach Drogen.
    Eigentlich war er ganz nett, der Sachse. Man konnte ja nichts für seinen Geburtsort. Sie tranken. Ein Leben ohne Alkohol war zwar möglich, aber an Tagen wie diesen eben keine Lösung. Also schunkelten sie und sangen mit, Lissi legte ein flottes Tänzchen mit dem Sachsen aufs Parkett. Der Tag schritt fort, das Licht wurde weicher.
    Auf der Wiese neben dem Haus baute sich eine Alphorngruppe auf und begann, diesem seltsamen Instrument nachgerade magische Töne zu entlocken. Irmi setzte sich auf die Brüstung und hörte zu. Ein Gänsehauterlebnis. Ein Instrument, das die Seele berührte. Vielleicht machte sie der Wein so sentimental. Oder diese bucklige Region. Oder der leere Magen. Der Sachse hielt gerade einen Vortrag über das Alphorn.
    »Alphörner waren immer Sache von Landschaften, wo es Hirten und Herden gab – egal ob im Allgäu, in Südamerika oder in Tibet. Hirten haben auf die Signalwirkung solcher Hörner gesetzt, um sich über die Täler hinweg zu verständigen. Sie lockten damit ihre Tiere an. Das Alphorn ist ein kultisch-mystisches Instrument.«
    Inzwischen fand Irmi ihn wirklich sympathisch. Er sah eigentlich auch recht gut aus. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig. Netter Hintern. Gut, der Schnäuzer war natürlich ein Minuspunkt, der Dialekt auch, aber wahrscheinlich war sein Job, hungernde Menschen bei Laune zu halten, auch nicht gerade prickelnd.
    Lissi jedenfalls schien ihn ganz besonders ansprechend zu finden, was Irmi mit Verwunderung registrierte. Warum eigentlich? Sie kannte Lissi nur als Alfreds Frau. Immer schon. Sie hatten geheiratet, als Lissi achtzehn und schwanger gewesen war. Sie kannte Lissi als perfekte Köchin, perfekte Bäuerin, Mutter von drei Söhnen, die alle eine gute Ausbildung machten. Der Älteste studierte sogar in Weihenstephan Agrarwissenschaft. Lissi war kürzlich vierzig geworden und hatte sich immer nur um ihre vier Männer gekümmert.
    Irmi schlenderte auf die Wiese hinaus, wo ein älterer Mann an sein Alphorn gelehnt stand.
    »Stimmt es, dass so ein Alphorn nur aus einem Baum stammen darf, der über
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