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Hueter der Daemmerung

Hueter der Daemmerung

Titel: Hueter der Daemmerung
Autoren: L. A. Weatherly
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kommst du her?«, erkundigte sich der Mann schließlich und drückte seine Zigarette in dem überquellenden Aschenbecher aus. »Sonora? Sinaloa?«
    »El DF«, sagte Seb. Der Distrito Federal, Mexico City. Inzwischen war es beinahe dunkel. Auf der Gegenfahrbahn war nur noch eine Kette aus Scheinwerfern zu erkennen, die aus der Finsternis auf sie zuglitten. »Meine Mutter war aus Sonora.«
    »Das habe ich mir gedacht«, sagte der Mann und sah wieder zu ihm hinüber. »Ich wette, sie war Französin. Oder Italienerin.«
    Seb konnte nicht widerstehen. »Italienerin«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. »Ursprünglich stammte sie aus Venedig. Mein Urgroßvater war ein Gondoliere. Dann ist er hierher ausgewandert und weil es hier keine Kanäle gab, wurde er ranchero.«
    Der Trucker machte große Augen. »Echt?«
    »Ja, klar«, entgegnete Seb und beugte sich vor, um die Asche von seiner Zigarette zu streifen. »Mehr als zehntausend Stück Vieh. Aber wissen Sie, im Herzen ist er immer bei seinen Kanälen geblieben.« Er hätte die Geschichte noch mehr ausschmücken können, doch der Kerl war so ein Idiot, dass es viel zu einfach war, um richtig Spaß zu machen.
    Der Fahrer wandte sich wieder dem schier unerschöpflichen Thema, seiner Freundin, zu. Er umriss ihre zahlreichen Mängel und wie sie sich zu bessern hatte. Weitere Bilder der drangsalierten Frau zuckten Seb durch den Kopf, während der Monolog neben ihm weiterging. Als sie endlich Sebs Ziel erreichten und rechts ranfuhren, war er so weit, dass er den Kerl liebend gern erwürgt hätte. Stattdessen ließ er die Zigaretten und das Feuerzeug aus der Jackentasche des Truckers mitgehen, als sie sich die Hände schüttelten. Seit seiner Kindheit auf den Straßen von Mexico City hatte Seb keinen Taschendiebstahl mehr begangen, aber dieser hier verschaffte ihm eine gewisse Befriedigung – obwohl er den cabron eigentlich weiterqualmen lassen sollte, damit er sich seine Gesundheit ruinierte.
    Als der Laster weiterfuhr, schüttelte sich Seb, um sich von der unangenehmen Energie zu befreien. Er war jetzt beinahe schon in der Sierra Madre und stand auf einer Anhöhe. Am Horizont erhoben sich die Berge in der zunehmenden Dunkelheit wie eine schemenhafte Masse.
    Er konzentrierte sich kurz, um sicherzugehen, dass keine Engel in der Nähe waren. Dann schickte er sein zweites Ich auf die Suche. Hoch oben aus der Luft war es für ihn ein Leichtes, das Waisenhaus ausfindig zu machen. Es lag einen knappen Kilometer weiter unten an der Straße, ein weitläufiges Gebäude mit einem trostlosen Spielplatz. Er holte einen Pullover aus seinem Rucksack und machte sich auf den Weg, wobei er sein anderes Selbst weiter durch die Luft fliegen ließ. Es war angenehm, die Flügel zu strecken. Es war schon einige Tage her, dass er eine nennenswerte Strecke geflogen war.
    Als er beim Gehen daran dachte, was er dem Lastwagenfahrer erzählt hatte, schmunzelte Seb verhalten. Wo seine Mutter herkam, war so ziemlich das Einzige, was er über sie wusste – außerdem war sie mittlerweile gestorben, das letzte Mal hatte er sie gesehen, als er fünf Jahre alt gewesen war. Aus den wenigen Erinnerungen, die er an sie hatte, wusste er, dass er ihr sehr ähnlich sah. Hellbraune lockige Haare, hohe Wangenknochen und haselnussbraune Augen. Ein Mund, den Frauen manchmal »schön« nannten, was ihn innerlich nur noch mehr die Augen verdrehen ließ. Seine Gesichtszüge waren eindeutig nordisch. Sonora war ein Bundesstaat, in dem sich europäische Einwanderer seit Generationen untereinander vermischt hatten. Wenn Gringo- Touristen ihm auf der Straße begegneten, hielten sie ihn immer für einen Landsmann und fragten ihn auf Englisch nach dem Weg – sie hatten eben nicht den leisesten Schimmer, dass Millionen Mexikaner durchaus nicht so aussahen wie in den Fernsehwestern.
    Und sein Vater? Tja. Seb vermutete, dass er nicht unattraktiv gewesen sein konnte. Keiner von ihnen war unattraktiv.
    Als er den Hügel erklomm, kam das Waisenhaus in Sicht und einen Moment lang blieb er stehen und starrte darauf hinab. Mit einer Hand umklammerte er den Rucksackriemen. Jetzt, wo er hier war, fürchtete er sich fast davor, hinzusehen – die andauernde Hoffnung, gefolgt von der unvermeidlichen Enttäuschung, war mittlerweile zunehmend schwerer zu ertragen. Trotzdem half es nichts. Die letzte Stunde seines Lebens, eingesperrt in einem Laster mit diesem pausenlos quasselnden Arsch, wäre sinnlos vergeudet, wenn er jetzt nicht das
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