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Hotel van Gogh

Hotel van Gogh

Titel: Hotel van Gogh
Autoren: J.R. Bechtle
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mittlerweile reizt sie diese Warterei auf Crosnier.
    »Lass uns bei der Polizei vorbeifahren, wahrscheinlich ist Crosnier direkt in sein Büro zurück.«
    Sie treffen zusammen mit Crosnier auf dem Polizeirevier ein.
    »Wahrscheinlich wird man der Sache nie ganz auf den Grund kommen. In jedem Fall halten Sie diesmal bitte die Presse heraus, das ist jetzt ausschließlich unsere Angelegenheit. Es ging um Ehre und Familie, also belassen wir es bei meiner zugegebenermaßen kurzen Version einer sehr komplizierten Ausgangslage. Was dann geschah, wann er seinen Revolver aus der Schublade holte, wo er ihn nach Auskunft der Familie aufbewahrte, und wann sie mit einem Küchenmesser mehrfach auf ihn eingestochen hat, wird sich wohl nie genau klären lassen. Die Untersuchung zeigt, dass er im Hals und in der Brust getroffen wurde. An der Stelle im Schlafzimmer, wo wir ihn fanden, ist er tödlich verletzt zusammengebrochen.«
    »Ein eindeutiger Fall von Notwehr?«, sagt Sabine.
    »Frau Taleb muss dann seinen Revolver genommen und sich im Wohnzimmer erschossen haben. Das Ergebnis haben sie ja gesehen.«
    »Warum ist sie nochmals in sein Haus? Als hätte sie nicht gewusst, was sie dort erwartete.«
    Crosnier blickt sie erschöpft an. »Darüber kann man nur spekulieren. Fest steht, dass sie erst ihn im Streit erstochen und sich dann selbst mit seiner Waffe erschossen hat. Es war seine Pistole, das haben beide Frauen bestätigt.«
    »Hat das auch mit meinem Onkel zu tun?«
    »Bei der Waffe handelt es sich um den Typ Revolver, mit dem Arthur Heller erschossen wurde. Insofern könnte durchaus ein Zusammenhang bestehen.«

11.
    Das neue Jahrhundert, das mit Johannas Heirat so vielversprechend begonnen hatte, ihre zweite Chance, die sich nun in einen tristen Alltag verwandelt hat. Bei Theos Tod ist ihre Welt zusammengebrochen. Als Johan stirbt, empfindet sie ein Gemisch von Trauer und Erleichterung. Neununddreißig Jahre ist er alt geworden.
    Erneut wendet sie sich Vincents Briefen zu, in denen sie damals nach ihrer Flucht aus Paris schon einmal Trost gefunden hat. Ergriffen verfolgt sie, wie er bei jeder noch so großen Enttäuschung an seinen hohen Idealen festhält, und gleichzeitig leidet sie mit diesem einsamen Menschen, wie er sich an seinen unerreichbaren Prinzipien aufreibt.
    Früher hatte sie schon einmal überlegt, die Briefe der Brüder zu veröffentlichen, aber damals verwarf sie dieses Vorhaben, weil es Vincent um den Erfolg als Maler ging. Nach der Ausstellung im Stedelijk Museum ist sein Durchbruch allerdings nicht mehr aufzuhalten. Nunmehr dienten die Briefe dazu, seinen wachsenden Ruhm als Künstler zu untermauern und den Zugang zu seinem Werk zu erleichtern. Vor allem zeigen sie den wirklichen Menschen hinter der abweisenden Fassade.
    Das Aufarbeiten der Briefe wird zum neuen Mittelpunkt ihres Lebens. Wer weiß, wie viel Zeit ihr noch bleibt? Mehr als einmal hat sie erlebt, wie schnell und unerwartet das Ende kommen kann. Und wer außer ihr wäre in der Lage, die Berge an Briefen zu sichten und das Durcheinander von Mitteilungen, Beobachtungen, Ausbrüchen und endlosen Rechtfertigungen zu sortieren?
    Tatsächlich sind die Briefe die Kette, die die Brüder aneinanderschmiedete. Auf diese Weise schloss Vincent Theo in seinen schöpferischen Prozess ein. Andererseits hielt Theo seinen Bruder durch seine Mitteilungen mit der Welt verbunden und ermöglichte ihm so, sein Werk für die sich dramatisch wandelnde Gegenwart relevant zu halten. Der eine ist nur durch den anderen zu verstehen, und Vincents Werk nur durch seinen Dialog mit Theo.
    Während die Welt mehr und mehr aus dem Ruder läuft, werden die Briefe zu ihrer Flucht aus der Wirklichkeit. Bei Kriegsbeginn im Jahr 1914 gibt sie der umfangreichen Darstellung den letzten Schliff.
    Johanna hat nach Vincents Tod wie er demütigende Ablehnungen durch den Pariser Kunsthandel erdulden müssen. Bei seinen Briefen an den Bruder, mit ihrem ungeahnten Einblick in das Leben und Werk des einzigartigen Malers, stehen die Verlage Schlange.
    Mit Stolz blickt sie auf das Erreichte. Was wäre ohne mich aus Vincent geworden?, denkt sie oft. Wenn sie ihrem Bruder Andries freie Hand gelassen hätte, die Bilder, Briefe und all die anderen Unterlagen zu vernichten! Auch ihr gebührt ein wichtiger Anteil am Werk der Brüder, jeder von ihnen hatte seinen ganz speziellen und unerlässlichen Beitrag zu leisten. Ob die Brüder dies ahnten? Ob Theo sie bewusst auf diese Aufgabe vorbereitet
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