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Hoffnung Blaue Seiten (German Edition)

Hoffnung Blaue Seiten (German Edition)

Titel: Hoffnung Blaue Seiten (German Edition)
Autoren: Jannis Plastargias
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mittlerweile eine Aura des weisen alten Mannes ausstrahlen kann, der Interesse weckt, aber auch den Eindruck macht, als könne man sich bei ihm ausheulen, ihm davon erzählen, wie ermüdend es ist, stundenlang auf den Blauen Seiten rumzuhängen, unzählige Nachrichten zu verfassen, um herauszufinden, ob der andere tatsächlich Mr. Right ist. Und noch deprimierender: Wenn man auf der Suche nach Sex ist, aber sich nichts auftun möchte, so rein gar nichts, und man sich schon fragen muss, was bei einem nicht stimmt, denn jeder kriegt doch hier nach kurzer Zeit einen Sex-Partner, wenn er das möchte. Mitnichten, antworte ich dann meistens, mitnichten, viele erzählen von diesem Phänomen, genauso wie sie immer wieder davon berichten, dass es so viele Fake-Profile in diesem Chat gebe, und ich frage mich, welchen Grund man dafür haben könnte, sich so ein Profil zuzulegen, in dem man sich als jemand anderes ausgibt. Was soll das, frage ich auch die anderen Chatter – und ihnen fallen viele Gründe ein: Dass man sich im Profil jünger macht, weil »die Schwulen« in »ihrem Schönheits- und Jugendwahn« Filter einbauen in ihrer Suche, nur die Altersspanne von 18 bis 30 berücksichtigt wird, so als Beispiel, alle anderen sieht man da nicht bei der Funktion: »Wer ist online?« Oder dass man andere Bilder einstellt, um attraktiver zu erscheinen, wobei das wirklich dumm ist, denn irgendwann, spätestens beim ersten Treffen, fällt ja der Schwindel auf, oder dass man bei der Schwanzgröße schummelt, so viele XL-Schwänze kann es doch gar nicht geben …
     
    Ich kann mich kaum auf meine Übersetzungen konzentrieren, ständig denke ich an die Blauen Seiten, den Ton habe ich zwar ausgeschaltet, die Harfenklänge höre ich nicht mehr, denn sie sollen mich nicht ablenken. Aber das führt dazu, dass ich permanent schauen muss, ob ich eine Nachricht erhalten habe, ob sich Filigranlover meldet, ob er online ist, ob einer meiner jüngeren Chat-Freunde einen Rat brauchen könnte. Endlich fühle ich mich in der Welt angekommen, fast so etwas wie ein Freundeskreis hat sich nun entwickelt, virtuell zwar, aber besser als nichts. Ich bekomme Aufmerksamkeit, es wissen Menschen, dass es mich gibt, ich bin von Bedeutung für sie, ein Gefühl, das ich so lange Zeit entbehren musste, das ist etwas, das mich einen Aufschwung fühlen lässt, Hoffnung, darauf vielleicht, dass sich meine Isolation aufheben könnte, es ist nicht das übliche In-die-Welt-Kommen, aber was habe ich schon für Möglichkeiten in meiner Situation?
     
    Mein Training wird verbissener, ich mache mehr Liegestütze, das Hanteltraining wird mit mehr Übungen aufgemotzt und nach einiger Zeit bestelle ich mir tatsächlich einen Cross-Trainer, den ich einfach in das überzählige Zimmer – und nun Lager – stelle, neben meine Schätze, launige Motown-Musik dabei hörend, welche mich in Tanzlaune zu bringen vermag, gerade richtig zum Cross-Trainieren. Es macht mir Spaß, ich fühle mich stark, ich merke, wie meine Muskeln fester werden, auch in diesem Alter, wie alles straffer wird, schöner, attraktiver, vielleicht attraktiv genug, um Filigranlover von mir überzeugen zu können. Bald beginne auch ich mit dem Fotografieren meiner Person, mit dem Bilder-Einstellen auf den Blauen Seiten, damit er sieht, wie ich mich gerade »immer mehr mache« – ja, er soll mich endlich treffen, er wird zu mir kommen und dann wird es so sehr schön, ich weiß das, ich fühle das!
     
    Mein ehemaliger Geliebter hatte mich stets auf dem Laufenden gehalten, hatte mir erzählt, welche Partys in unserer Stadt angesagt sind, welche Verhaltensweisen unter Schwulen, welche Kleidungsstile, damit ich diese Realität mit der aus meinen Büchern abgleichen konnte. Denn meine eigene Realität befand sich, befindet sich immer noch, in meinen eigenen vier Wänden, die nur von mir bevölkert werden. Er erzählte mir davon, wo heutzutage die Cruising-Areas in unserer Stadt sind, wo sich also die schwulen Männer rumtreiben, um mit Namenlosen zu ficken, wo sich die Schwulensaunen befinden, berichtete mir von seinen Besuchen dort, erzählte, wer von seinen Freunden und Bekannten HIV-positiv sei, zum Glück nur wenige, erzählte mir von den neuen Selbsthilfegruppen, knipste Fotos von den Christopher Street Days, mit seinem eigenen Blick, der nicht in den Online-Magazinen zu finden war, in denen ich die restlichen Bilder dieser Veranstaltungen betrachtete. Er erzählte mir von der neuen selbstbewussten Generation
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