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Hinter Jedem Konflikt Steckt Ein Traum, Der Sich Entfalten Will

Titel: Hinter Jedem Konflikt Steckt Ein Traum, Der Sich Entfalten Will
Autoren: Birgit Theresa Koch
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geübt und verurteile das selbst zutiefst«, nicht ganz stimmte. Ich selbst spürte das Bedürfnis, mich auf die Seite der Susanne zu stellen, die sich vielleicht gar nicht anders hatte verhalten können. Tatsächlich entdeckten wir diese Seite, die sich hatte schützen wollen und das im Umgang mit der Aggressivität des Jungen nur handgreiflich hatte tun können. Meine Parteiergreifung hatte zur Folge, dass sich Susanne nun besser erinnerte, auch wenn sie sich nicht sofort zu mir auf meine fürsprechende Seite stellen konnte. Es wurde deutlich, wie sehr sie in der besagten Situation versucht hatte, den Jungen zu halten, und gleichzeitig seine Versuche, sie an den Haaren zu zerren und sie in die Hand zu beißen, abgewehrt hatte. In einem Moment hatte sie nach dem Kiefer des Jungen gegriffen und seinen Kopf von ihrem Körper weggedrückt und das sehr wahrscheinlich mit so viel Kraft und gespeist von ihrer eigenen Wut, dass der Kopf an die nahe Wand knallte.
    Wie konnte so etwas passieren? Ich bleibe noch auf der Seite, die keine Schuld vergeben, sondern etwas Wichtiges verstehen will. Meine Hypothese, die ich mitteilte, war: Susanne, die ihre ersten pädagogischen Erfahrungen mit Schwersterziehbaren macht, hat noch keine ausreichende Kontrolle über ihren Körper, wenn sie sich selbst verteidigt oder in einem Handgemenge ist. Sie kann ihre Kraft und auch ihre aggressiven Impulse, wenn ein anderer ihr Schmerz zufügt und sei dies nur ein kleiner Junge, nicht einschätzen und erlebt sehr wahrscheinlich den Jungen stärker, als er wirklich ist. Sie muss lernen, sich in Selbstverteidigungssituationen besser zu kontrollieren und letztendlich zu schützen. Und ganz generell muss sie Erfahrungen und wahrscheinlich auch Fehler machen, um zu lernen, ihre Kraft und ihre Wut in solchen Situationen besser einzuschätzen.
Mit welchen Kindern kann sie arbeiten, mit welchen besser nicht? Und wann holt sie Hilfe und sagt Nein?
    Am Ende der Sitzung war Susanne A. erschöpft, aber sie traute sich jetzt zu, sowohl einen ausführlichen Bericht zu schreiben als auch ein klärendes und um Unterstützung bittendes Gespräch mit der pädagogischen Leitung ihrer Einrichtung zu führen.
    Tiefe Demokratie ist praktizierte Selbstliebe: Sie erlaubt uns zu fühlen, was wir fühlen, und zu sein, wie wir sind.
    Auch das ist Tiefe Demokratie, die verschiedenen Seiten zu sehen und sich mit der eigenen Aggressivität auseinanderzusetzen, ohne zu schnell und schlussendlich zu bewerten oder Menschen und ihr Tun abzuwerten. So kann Susanne A. diese schlimme Erfahrung als einen Entwicklungsschritt sehen. Vielleicht war der Junge ein Verbündeter, der sie dahin brachte, einen anderen und verstehenden Blick auf sich selbst und aggressive Kinder und Jugendliche zu entwickeln. Sie brauchte dieses Erlebnis, um eine alte Grenze zu überschreiten und den nächsten Schritt als Pädagogin zu gehen.
    Auch im Privatleben kann eine Haltung der Tiefen Demokratie uns bereichern. Hier ein Beispiel dazu:
    Fallbeispiel
    In diesen Tagen arbeite ich mit einem jungen Mann, der schon einmal mit seiner Ehefrau bei mir war. Ich nenne ihn hier Jürgen T. Er ist vor wenigen Monaten Vater geworden, hat eine neue Arbeit angefangen und mit seiner Familie einen Ortswechsel vorgenommen. Zum einen möchte er mit seiner Mutter, die hohe Erwartungen an die junge Familie stellt, besser auskommen, zum anderen will er loyal mit seiner Frau sein und diese unterstützen. Seine Frau fühlt sich in der neuen Stadt noch nicht heimisch und will, dass er sich mehr um sie kümmert. In der Unzufriedenheit gibt es viele Vorwürfe: »Wenn du nur das und das so oder anders
machen würdest, wenn du nicht so wärst wie deine Mutter, dann wäre das Glück schon ein bisschen näher.« Auch er denkt ähnlich über seine Frau und hat Ideen, was sie doch endlich tun sollte, um schneller heimisch und hoffentlich glücklich zu werden. Mich überkommt im Verlaufe des Prozesses ein großes Mitgefühl, auch ich werde traurig als Resonanz auf seine Traurigkeit. Vielleicht ist es das, was diese Familie tatsächlich braucht: sich hinsetzen und traurig sein, dass noch nicht alles optimal läuft und es in unserer Gesellschaft nicht leicht ist, eine glückliche Kleinfamilie zu sein, und dass sich alle oft einsam und alleine gelassen fühlen. Ich frage ihn, wie es wäre, wenn er und seine Frau diese Traurigkeit und die Einsamkeit einfach annehmen, wenn sie kommt, anstatt sie möglichst schnell zu vertreiben mit
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