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Hinter der Tür

Hinter der Tür

Titel: Hinter der Tür
Autoren: Henry Slesar
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die wir fälschlicherweise ›Deduktion‹ nennen. Tatsachen in Erfahrung bringen, ohne daß die Betreffenden direkte Aussagen dazu machen.«
    »Wissen Sie denn etwas über mich? Nur aus der Art und Weise, wie ich hier sitze und mit Ihnen rede? Körpersprache?«
    Er lachte leise. »Tut mir leid, die spreche ich nicht. Aber wenn ich‘s täte, würde ich mir Ihren Körper anschauen und sagen: › O Mann!‹«
    Gail errötete, und ihre Haut bildete einen kräftigen rosa Kontrast zu dem blonden Haar. Vanner beobachtete interessiert die Wirkung seiner Worte und fragte: »Belastet Sie meine Bemerkung? Haben Sie etwas gegen persönliche Anspielungen, anatomische Anspielungen?«
    »Wenn Sie meinen, daß ich wegen eines sexuellen Problems gekommen bin, Doktor …«
    »Ich wollte Ihnen nichts unterstellen.« Er lehnte sich zurück und schlug einen ernsteren Tonfall an. »Und ich wollte fragen: Stimmt es, daß Ihre Mutter Selbstmord begangen hat?«
    Im ersten Moment vermochte Gail nicht zu antworten; sie versuchte darauf zu kommen, welches Zeichen ihm diese Wahrheit eröffnet hatte. Schließlich erkundigte sie sich danach.
    »Kein Zeichen«, sagte er ernst. »Das war nur ein schlecht abgepaßter Scherz. Ich erinnerte mich daran, daß es einmal eine Schauspielerin namens Cressie Blake gegeben hat, die einen sehr reichen Mann namens Gun- nerson heiratete und sich später umbrachte.« Sanft: »Sie taucht noch ab und zu im Spätprogramm auf. Haben Sie sie gesehen?«
    »Nein, die alten Filme meiner Mutter schaue ich mir nie an – das ertrage ich nicht. Sie kommt mir so absolut fremd vor.«
    »Das ist bedauerlich. Wenn Sie sich die Filme ansähen, wüßten Sie nämlich, wie ich auf meine Schlußfolgerung gekommen bin.«
    »Ja. Ich weiß, daß sie mir ähnlich ist.«
    »Auch in einer anderen Hinsicht als dem Aussehen?«
    Sie sah Vanner an und spürte die Notwendigkeit, seinem Blick nicht auszuweichen. Er brach den Kontakt als erster und zupfte an seinem Bart. »Äh, hatten Sie irgendwelche anderen Verwandten?«
    »Nur meinen Onkel Swann, den Bruder meines Vaters. Und meinen Vetter Piers, seinen Sohn.«
    »Haben Sie später mit den beiden zusammengelebt?«
    »Nein. Mein Onkel ist viel gereist. Meistens in Europa. Aber er hat alles für mich arrangiert – naja, oder die Bank.«
    »Die Bank?«
    »Die Familie hat etwas Geld. Die Bank hat das für mich verwaltet – tut sie immer noch. Meine Mutter hatte das so vorgesehen.« Mit einer gewissen Bitterkeit fügte sie hinzu: »Ich dürfte mich wohl gar nicht als Waise bezeichnen. Ich hatte ja Vermögensverwalter als Eltern.«
    Zum erstenmal kam Vanner hinter seinem Schreibtisch hervor. Seine »Körpersprache« zeugte von Squash und Tennis. Er ging zu einem Ledermantel, der an einem Haken hing, und begann in den Taschen nach etwas zu suchen. Als er weitersprach, war seine Stimme völlig ernst. »Nein, Miss Gunnerson«, sagte er, »ich glaube nicht, daß die Bank eine Mutter ersetzen kann. Sie können nicht zur Bank laufen, wenn Sie sich das Knie aufschürfen oder einsam oder gekränkt oder hilflos sind …« Er wandte sich zu ihr um, die endlich gefundene Zigarettenpackung in der Hand. »Oder wenn Sie Angst haben«, sagte er.
    Gail wartete ab.
    »Sie waren doch ein sehr verängstigtes Kind, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Und das Problem liegt darin, daß schließlich ein erwachsenes Mädchen aus Ihnen geworden ist. Und daß Sie immer noch verängstigt sind.«
    Er kehrte zum Schreibtisch zurück und öffnete dabei die Packung. »Das ist das Unfaire am Erwachsenwerden. Man soll die Kindheitsängste abschütteln. Leider ist das nicht immer so einfach. Deshalb haben Leute wie ich Diplome und lassen sich Barte wachsen.«
    Irgend etwas kratzte an der Tür, und Vanner wandte den Kopf und lächelte. »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte er.
    Er öffnete die Tür, und ein zotteliges Energiebündel schoß ins Zimmer, machte hastig Gebrauch von dem Lenksystem in seiner Nase, um sich das interessanteste Ziel auszusuchen, und leckte schließlich Gails Kinn. Sie lachte, streichelte das Wesen und fragte: »Wie heißt er denn?«
    »Sie heißt Cassandra. Komm, Cass, laß die Dame zufrieden.«
    »Mir macht das nichts, ich mag Hunde. Was ist das für einer? Die Rasse kenne ich nicht.«
    »Cass auch nicht. Komm, du haariger Bursche, es wird Zeit für deine Therapie!«
    Cass sprang auf die Ledercouch des Arztes und ließ sich auf den Rücken rollen. Wieder lachte Gail; alles, was Tiere den Menschen
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