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Hinter der Tür

Hinter der Tür

Titel: Hinter der Tür
Autoren: Henry Slesar
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Schatz«, sagte er. »Sie brauchen keine Angst davor zu haben.«
    Er blinzelte Gail zu und ging zum nächsten Studenten. Helen betrachtete abschätzend ihren Zeichenblock und beschloß dann das Werk noch zu krönen – sie signierte es.
    »Was machst du denn da?« fragte Gail.
    Helen riß das Blatt ab und rollte es zusammen. »Ich will meinem Alten endlich mal beweisen, daß ich zeichnen kann!«
    Zum Mittagessen setzten sich die beiden mit ihren Sandwiches in den Park, und Helen fragte: »Na, wie war es gestern nacht?«
    Gail schüttelte den Kopf. »Nichts Neues. Hör auf, mich jeden Tag danach zu fragen, Helen, du weißt doch, daß ich dir immer dasselbe antworte. Ich gehöre eben zu den Leuten, die nicht gut schlafen.«
    »Wie schaffst du es dann? Ich meine, wie kann ein Mädchen, das nie zu ihrem Schönheitsschlaf kommt, so verdammt schön sein?«
    »Iß lieber deinen Kram.«
    »Leberwurst… Gail, was ist mit dem Arzt, den du konsultieren wolltest? Yost?«
    »Der hat mir genau dasselbe verschrieben wie der letzte. Ich habe ihm gleich gesagt, es würde nichts nützen. Oh, nicht daß ich nicht einschliefe – das Pheno- barb schlägt durch wie ein Hammer. Aber dann erwache ich mitten in der Nacht, als hätte ich plötzlich einen Kanonenschuß gehört, und mein Herz klopft tausendmal in der Minute. Und am nächsten Tag bin ich ein Wrack, ein absolutes Wrack. Nein, das ist keine Lösung, Helen; ist es noch nie gewesen.«
    »Und gestern nacht?«
    »Ich habe gar nichts genommen. Ich hab‘s einfach nicht fertiggebracht. Ich wollte mich heute wenigstens wie ein Mensch fühlen.« »Und fühlst du dich wie ein Mensch?«
    »Nein.«
    »Also hast du gar nicht geschlafen.«
    »Eingeschlafen bin ich schon«, sagte Gail. »Damit habe ich selten Kummer. Aber dann …«
    »Dann kamen wieder die Träume, nicht wahr?«
    »Weißt du was? Gespräche über meine Gesundheit sind etwa so interessant wie – Leberwurstsandwiches. Wie kannst du so etwas überhaupt essen?«
    »Ich brauche Eisen«, sagte Helen, die gedankenverloren vor sich hin kaute. Gail ließ sie träumen und trank aus ihrer Milchtüte. Plötzlich musterte Helen sie mit ungewohntem Ernst und sagte: »Schatz, hättest du etwas dagegen, wenn ich mal was sehr Persönliches sage?«
    »Bitte.«
    »Ich habe eine große Klappe, das kann jeder sehen, und manchmal meine ich fast, das gäbe mir das Recht, gewisse Dinge offen auszusprechen. Unterbrich mich, wenn ich über das Ziel hinausschieße, aber … naja, du erinnerst mich an mich selbst.«
    »In welcher Beziehung?«
    »Ach, mach dir keine Sorgen – ich werde dir meine Krankengeschichte ersparen. Da wir gerade über Leberwurst reden – vor ein paar Jahren war ich auch wie durch den Wolf gedreht. Ich meine, ich hatte die schlimmsten hysterischen Zustände, die du dir nur vorstellen kannst.«
    »Du?« Mit diesem Ausruf charakterisierte Gail das unbeschwerte Wesen ihrer Freundin.
    »Jede Schallplatte hat zwei Seiten – du schaust dir gerade die A-Seite an.« Helen knüllte die Überreste ihres Sandwich zusammen und stopfte sie in die Papiertüte. »Ich will dir sagen, wie schlimm es mit mir stand«, sagte sie. »Eines Abends ging ich ins Badezimmer, nahm eine Rasierklinge und schnitt mir die Pulsadern auf.«
    Sie knöpfte die langärmlige Bluse auf, und Gail erkannte, daß Helens Kleidung stets die Handgelenke verdeckte. Die Narben waren dünn, hell und lang.
    »Kräftige, kühne Striche«, sagte Helen.
    Gail war sprachlos.
    »Wie du vielleicht schon erraten hast«, fuhr Helen fort, »hab ich mich sehr blöd angestellt. Natürlich legte man mich auf eine psychiatrische Station; ich hatte niemanden, der die Sache für mich vertuschte. Als ich wieder rauskam, wurde ich zu einem Psychiater in Beobachtung gegeben. Ein junger Typ, frisch von der Uni, noch feucht hinter dem Diplom. Dr. Vanner hieß er. Gott segne jedes Haar in seinem Bart.«
    »Er hat dir geholfen?«
    »Er hat mir das Leben gerettet! Ich meine das wortwörtlich.«
    »Besuchst du ihn immer noch?«
    »Nur noch einmal monatlich. Um meine Psyche rundum im Schuß zu halten.« Sie lächelte. »Vanner ist heute erheblich teurer als früher. Praxis an der Park Avenue. Echtlederne Couch. Als ich ihn kennenlernte, hat er noch zwei Küchenstühle zusammengestellt.« Sie berührte Gails Hand. Dabei fielen ihr die Narben an den Handgelenken ein, und sie knöpfte ihre Ärmel zu. »Schatz, ich wollte dich nur fragen, ob du schon mal einen Mann wie ihn besucht hast.«
    Gail
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