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Hinter der Tür

Hinter der Tür

Titel: Hinter der Tür
Autoren: Henry Slesar
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Bellinger. »Du hast ihr Kleid gesehen, nicht deine arme Mutter. Den Irrtum hätte jeder begehen können, mein Liebling. Jeder.«

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    N ein«, erzählte sie Dr. Vanner am nächsten Tag (es hatte sich herausgestellt, daß der Termin um vier Uhr war), »Mrs. Bellinger hat sich geirrt. Nicht jeder hätte sehen können, was ich gesehen habe.«
    »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, erwiderte er. »Halluzinationen sind etwas sehr Individuelles. Sie setzen sich zusammen aus alten vergrabenen Erinnerungsbildern, Wahrnehmungen und geheimen Ängsten.«
    »Ja, vielleicht meine ich das«, flüsterte Gail, und ihre Fingerknöchel verkrampften sich weiß um die Kanten der Couch.
    »Sprechen Sie davon«, ermutigte sie Vanner.
    »Das Wort – Halluzination. Ist das eine so alltägliche Erfahrung? Wenn jemand Halluzinationen hat, bedeutet das nicht, daß etwas mit ihm nicht stimmt?«
    »Ab und zu ist es jedem mal vergönnt, etwas zu sehen. Einige Leute geben sich große Mühe damit. All die jungen Leute, die Acid, Skag, Peyote und Sonnenblumenkerne nehmen – was sehen die wohl, nachdem sie die normale Funktion ihrer Gehirnzellen verändert haben?«
    »Ich habe mal zwei Züge von einer Marihuanazigarette geraucht«, sagte Gail. »Das sind meine ganzen Erfahrungen in dieser Hinsicht.«
    »Also gut. Sagen wir einfach, Ihre Augen haben Ihnen etwas vorgemacht. Und dürfte nicht klar sein, daß Sie dieser Täuschung nur erlegen sind, weil es sich um eine Szene handelte, die Sie schon kannten?«
    »Nein.« Gail schüttelte den Kopf. »Ich habe die Leiche meiner Mutter nie gesehen. Weder als sie sich auf- hängte noch hinterher. Es war Mrs. Bellinger, die sie auf dem Boden fand.« Die Furche zwischen ihren Augen vertiefte sich. »Wo ich gerade darüber nachdenke – ich wußte überhaupt nicht, wo es passiert war. Hätte ich gewußt, daß es auf dem Boden geschehen ist, wäre ich gestern abend nie hinaufgegangen.«
    »Wann haben Sie sich denn wieder daran erinnert?«
    »Gar nicht. Mrs. Bellinger hat‘s mir schließlich erzählt. Meine Mutter hat sich da oben an einer elektrischen Schnur aufgehängt. Als ich noch ein Kind war, hat mir niemand die Einzelheiten verraten. Man wollte mir soviel wie möglich ersparen.«
    »Oder Sie haben es sich selbst erspart«, sagte Vanner leise. »Sie wissen, daß der Geist die Möglichkeit kennt, Dinge zu vergessen, die er zu unangenehm findet.«
    »Ja«, sagte Gail. »Das weiß ich nur zu gut.« Sie wandte den Kopf und sah ihn an. Vanners Stuhl stand immer unmittelbar hinter ihrem Kopf. »Es ist schrecklich heiß hier – oder bin ich das nur?«
    »Sie und ich – wir beide«, sagte er lächelnd. »Meine Klimaanlage muß repariert werden – deshalb habe ich auch das Fenster offen. Ich hatte gehofft, Sie würden nichts merken.«
    »Ist meine Stunde fast vorbei?«
    »Ich schulde Ihnen noch zehn Minuten. Wissen Sie was?« fragte er fröhlich. »Würden Sie sich betrogen und verlassen vorkommen, wenn ich vorschlage, daß wir unser Gespräch draußen beenden?«
    »Draußen?«
    »Im Park. Ich habe Cassandra einen langen Spaziergang versprochen, sobald das Wetter besser würde. Wir könnten im Zoo vorbeischauen und einen Tee trinken oder so. Ich habe heute keine Patienten mehr.«
    »Ich dachte, Psychoanalytiker verkehrten nicht privat mit ihren Patienten.«
    »Das erzählen wir nur so herum. Bei hübschen Mädchen gilt das nicht.«
    Cassandra, der Fast-Schäferhund, geriet völlig aus dem Häuschen, als die erste grüne Erhebung in Sicht kam. Vanner verstieß gegen die Parkvorschriften, indem er sie aus dem Halsband rutschen und hinter den anderen unrechtmäßig freigelassenen Hunden herjagen ließ. Beim Anblick ihrer wilden Fröhlichkeit wurde Gail leichter ums Herz.
    »Schön ist es hier«, sagte sie. »Sie müßten im Sommer alle Patienten im Park behandeln.«
    »Warum nicht? Und anstelle meiner Couch nehmen wir die Parkbänke.«
    Sie kamen an einem schnarchenden Stadtstreicher vorbei, der ausgestreckt auf einer Bank lag.
    »Ist das einer Ihrer Patienten?«
    »Einer meinei Fehlschläge, der arme Bursche.«
    Gail lachte.
    Aber sie war w ieder ernst und sogar ein wenig verdrossen, als sie schließlich im Freiluft-Cafe des Zoos bedient wurden, während Cassandra zufrieden unter dem Tisch lag und von Bäumen träumte.
    »Sie wissen doch, warum ich Ihnen die Frage gestellt habe, nicht wahr? Über die Halluzinationen?«
    »Na, weil Sie gerade eine gehabt haben.«
    »Nein. Weil ich mehr als eine gehabt
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