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Hinter der Tür

Hinter der Tür

Titel: Hinter der Tür
Autoren: Henry Slesar
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habe.«
    »Von früheren Visionen haben Sie mir noch nichts gesagt.«
    Sie zögerte. »Sie müssen ja nicht visuell gewesen sein, oder? Ich meine, ich habe im Haus Geräusche gehört, Geräusche, die es wahrscheinlich nie gegeben hat.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Na, daß Leute, die normal sind, die geistig gesund sind, keine Halluzinationen haben.«
    »Meinen Sie Ihre Mutter?«
    »Das wissen Sie doch!«
    Vanner seufzte. »Gail, geistige Gesundheit und Wahnsinn sind die beiden unpräzisesten Begriffe im Wörterbuch – allerdings nach der ›Liebe‹«
    »Die Krankheit meiner Mutter hatte nichts Unpräzises.«
    Streng: »Nach den Angaben, die Sie mir gemacht haben, hatte Ihre Mutter nach dem Tod Ihres Vaters einen Anfall akuter Melancholie. Das ist die verbreitetste Ursache einer Depression, wissen Sie – der Verlust eines engen Familienangehörigen. Sie brauchte Hilfe, um wieder zu sich zu kommen, aber diese Hilfe kam nicht rechtzeitig. Bei Ihnen schon.«
    »Ja«, sagte sie und blickte auf die Uhr. »Man hilft mir sogar mit Überstunden. Ich wußte ja gar nicht, wie spätes ist!«
    »Kommt es darauf an?«
    »Ich habe um sechs Uhr eine Zeichenstunde. Ich werde mich verspäten!« »Ist das schlimm?«
    »Nein«, sagte Gail. »Es ist jedenfalls nichts Neues.«
    Aber es gab an diesem Abend doch etwas Neues in der Zeichenstunde.
    »Neue Attraktion«, sagte Helen Malmquist und deutete mit einer Kopfbewegung auf die entgegengesetzte Seite des Zimmers.
    Gail schaute hinüber. Steve Tyner stand dort an einer Staffelei und zeichnete. Seine Konzentration war offensichtlich gespielt. Als sie in seine Richtung blickte, lächelte er und winkte ihr mit zwei Fingern zu.
    »He, das ging aber schnell!« sagte Helen.
    »Eigentlich nicht.« Gail runzelte die Stirn. »Das ist das Scheusal, von dem ich dir erzählt habe, der Kerl, der mich verfolgt hat.«
    »Himmel, hast du Grund zum Klagen?«
    Steve nahm seinen Zeichenblock von der Staffelei und kam auf sie zu. Dabei schlug er das obere Blatt um, um sein Kunstwerk zu verdecken. Er tat, als blicke er Gail nicht an, sondern blieb an der Staffelei ihrer Nachbarin stehen und musterte die Zeichnungen mit gespielt kritischem Blick. »Wissen Sie, was bei Ihnen nicht stimmt, Madam?«
    »Was denn?« fragte die Frau überrascht.
    »Ihre Perspektive. Sie haben von Natur aus eine linkshändige Perspektive. Sie sollten immer von der Seite des Raumes aus zeichnen.«
    »Meinen Sie wirklich?«
    »Rembrandt hatte ebenfalls eine Linkshänderperspektive. Versuchen Sie‘s mal.«
    Auch als er die Staffelei längst übernommen hatte,
    blickte Gail ihn nicht an. Aber die Anstrengung war zu groß. Sie ließ ihre Stimme so eisig wie möglich klingen und fragte: »Weiß die Fiduciary Bank, daß sie für Zeichenstunden bezahlt?«
    »Ich male schon seit Jahren.«
    »Bilder oder Decken?«
    »Dürfte ich mal Ihre Zeichnung sehen?« fragte Helen und schenkte ihm ein breites Lächeln. »Schon gut. Wir beide gehören zusammen.«
    »Ich habe Ihren Namen nicht verstanden.«
    »Helen Malmquist. Und wie heißen Sie?«
    »Steve Tyner«, sagte er. »Und um ehrlich zu sein, habe ich etwas dagegen, wenn sich jemand meine Arbeiten ansieht, bevor sie fertig sind. Ich reagiere ziemlich empfindlich auf Kritik.«
    »Vielleicht hätten Sie Privatstunden nehmen sollen.«
    »Da mögen Sie recht haben.« Er sah Gail zögernd an. »Können Sie jemanden empfehlen?«
    Helen bemerkte amüsiert, daß Gail sich starr auf das Aktmodell konzentrierte. Sie fragte: »Was hatten Sie denn für ein Honorar im Sinn?«
    »Oh, Cocktails. Abendessen. Vielleicht eine Kutschenfahrt durch den Park. Ob Ihre Freundin wohl Interesse hätte?«
    »Warum fragen Sie sie nicht?«
    »Warum fordern Sie nicht Mr. Liebling auf?« fragte Gail.
    »Ich bin sicher, er ist ein großartiger Kunstlehrer. Aber ich glaube nicht, daß er mir in einer Kutsche recht wäre.«
    »Tut mir leid. Ich gebe keine Stunden. Ich bin selbst nur Schülerin.« »Wie war‘s dann trotzdem mit einem Abendessen? Heute abend?«
    »Tut mir leid.«
    »Morgen zum Mittagessen?«
    »Nein, vielen Dank.«
    »Brunch? Englischer Tee? Kaffeepause, Mitternachtshappen?«
    »Gail«, sagte Helen. »Larry und ich fahren morgen zum Strand. Warum machen wir den Ausflug nicht zu viert?«
    »Einverstanden?« fragte Steve. »Wenn ich verspreche, daß ich die Fiduciary Bank zu Hause lasse?«
    Aber sie blieb bei ihrem Nein, bis er schließlich die Zeichnung aufklappte, an der er arbeitete. Es war ein
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