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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond
Autoren: Wäis Kiani
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war mir egal. Hauptsache, irgendetwas ging kaputt, zerbrach oder rannte heulend weg. Das war dann dieser kurze Moment, der mich mit einer tiefen Befriedigung erfüllte, bevor die Angst einsetzte, für meine Taten bestraft zu werden.

    So war mein Leben. Meine Eltern hatten mir schon immer von diesem Persien erzählt, das angeblich unsere Heimat war, aber es hatte mich nicht sonderlich interessiert. Meine Heimat waren der Schulweg mit den Apfelbäumen, die ich unreif klaute und aß, obwohl ich keine Äpfel mochte, weil der Bauer immer so toll herumschrie, wenn er es sah, der große Spielplatz hinter unserem Haus, die hohe, alte Kastanie mit dem Baumhaus der Hausmeisterjungs, die saftigen Moore vor den rostigen Zuggleisen und der kleine Coop-Markt mit den bunten Eistafeln von Schöller und Langnese. Ich kannte die bunten Tafeln auswendig und hätte sie mit geschlossenen Augen zeichnen können. Es gab gerade eine neue himmlische Sorte: Grünofant, Waldmeister mit Vanille. Ich war waldmeister- und vanillesüchtig. Das alles war mein Zuhause, und ich wollte nirgendwo anders sein.
    Aber irgendwann kamen meine Eltern mit der komischen Idee, dass wir in unsere Heimat zurückgehen würden. Und dann stellten sie mir einiges in Aussicht: ein kleines batteriebetriebenes Auto, das ich in London bei Harrods in der Spielwarenabteilung gesehen hatte, einen eigenen Streichelzoo mit echten Tieren und einem kleinen Esel mit Eselskarren und eine tolle Schule, wo ich mit Prinzen und Prinzessinnen befreundet sein könnte. Ich war trotzdem dagegen, in eine Heimat zurückzugehen, über die niemand etwas wusste.
    »Warum sollen wir denn weggehen? Es ist doch super hier. Was mache ich, wenn die Kinder dort doof sind und ich niemanden mag? Ich will nicht nach Persien. Ich will hierbleiben.«
    Mein Vater schüttelte den Kopf.
    »Es wird dir gefallen«, sagte er. »Du wirst wie eine Prinzes sin leben. Du bekommst einen eigenen Garten, so groß wie ein Park, mit allen Obstbäumen, die du dir wünschst, und Babytigern.« Mit den Babytigern hatte er mich.
    Im Nachhinein ist es komisch, dass ich diese Geschichten geglaubt habe. Aber vielleicht glaubte ich es damals nur, weil mir keine andere Wahl blieb. Ich wollte gar keine Heimat. Ich war glücklich, wo ich war, aber ich wurde nicht gefragt, ob ich meine Streunereien in Gummistiefeln in ostfriesischen Wäldern und Wiesen gegen ein persisches Prinzessinnen-Leben eintauschen wollte. Ich wurde auf den Rücksitz des Volvos gesetzt und mitgenommen.
    Und da saß ich jetzt und machte mir Sorgen um das, was mich am Ziel unserer Reise erwartete.

    Unsere Ankunft in Teheran war surreal. Wir wurden von meinen Großeltern, also den Eltern meines Vaters, aufgenommen. Die Familie meines Vaters stammt nicht aus Teheran, sondern aus einem Kaff im Norden des Landes an der Grenze zur Türkei. In diesem Grenzgebiet wird türkisch gesprochen, allerdings nicht genau das Türkisch, das die Türken in der Türkei sprechen, sondern ein Dialekt, mit dem man sich in der Türkei durchaus verständigen und gleichzeitig als Grenzdorfmensch outen konnte. Ich verstand ohnehin kein Wort von dem, was gesprochen wurde, es war egal, ob Persisch, also Farsi, oder Türkenwelsch. Ich konnte nur Deutsch und verstand nur das Gröbste von dem, was meine Eltern in ihrem Küchen-Farsi zu mir sagten. Ich hatte in meinem Leben noch keinen anderen Menschen Persisch sprechen hören. Wir hatten nie Besuch von der Familie aus Teheran bekommen, und mein Vater war jedes Jahr allein nach Teheran geflogen, um seine Eltern zu besuchen, und hatte mir goldene Armreife und Lammfellmäntelchen mitgebracht. Jetzt waren plötzlich alle ständig entsetzt über das Kommunikationsproblem und über die nachlässige Erziehung meiner Eltern, die es versäumt hatten, ihrem einzigen Kind in Europa die sogenannte Muttersprache beizubringen. Ich fand das nicht weiter schlimm, dass keiner mit mir sprechen konnte. Sie riefen ständig meinen Namen: »Leilydjun, Leilydjun«, denn wenn man jemand sehr mag, dann hängt man ein Djun an den Namen, das wusste ich. Ich sollte auch an jeden Namen ein Djun hängen, was ich natürlich nie machte. Ich konnte mir einfach nichts Peinlicheres vorstellen, als hinter jeden Namen ein Djun zu hängen.
    Meine Großmutter, also die Mutter meines Vaters, wurde Maman genannt, aber ich sollte Mamandjun sagen, verlangte meine Mutter. Maman konnte noch nicht einmal richtig Farsi sprechen. Ihr jahrelanges Hausfrauendasein hatte ihr nie mehr
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