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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond
Autoren: Wäis Kiani
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Spielesammlungen und meine große Puppenstube, und dann langweilte ich mich noch mehr.
    Ich hasste es, wenn die Kinder mit meinen Sachen spielten, auch wenn ich selbst nie damit spielte. Ich fand es ungerecht, dass sie erst zu dumm waren, um meine Langeweile zu vertreiben, und sich dann noch mit meinen Spielsachen amüsierten, mit denen ich mich nicht amüsieren konnte. Das machte mich so wütend, dass ich wollte, dass alle sofort wieder gingen.
    Für mich wurde extra gekocht. Ich war ein sehr schlechter Esser, und meine Eltern freuten sich wie kleine Kinder, wenn es mir einmal schmeckte. Auf meine Vorlieben und Abneigungen wurde grundsätzlich Rücksicht genommen. Wann immer ich es wünschte, schob meine Mutter ein Brathähnchen in den Ofen, nur für mich. Meine Kleidung kaufte meine Mutter in einer französischen Kinderboutique in Hamburg, nie musste ich etwas anziehen, was kratzte oder schon jemand anderes vorher angehabt hatte. Ich musste nicht im Haushalt helfen. Ich musste nicht endlos betteln, bis meine Mutter mir endlich erlaubte, ein Eis oder ein Stück Kinderschokolade zu essen. Unser Süßigkeitenschrank wurde von mir höchstpersönlich gefüllt, und ich konnte mich bedienen, wie ich wollte. Ich konnte fernsehen, so viel ich Lust hatte, und mich in mein Zimmer zurückziehen, wenn mir nach alleine sein war. Ich hatte keine Pflichten, außer jeden Morgen zur Schule zu gehen und nach dem Draußenspielen vor Einbruch der Dunkelheit wieder heil zurück nach Hause zu kommen.
    Aber das waren schon zu viele Verpflichtungen.
    Ich hasste die Schule. In der vierten Klasse Grundschule hatte ich schon große Mühe, dem Unterricht zu folgen. Schuld war unter anderem die Mengenlehre. Ich hasste die blaue Plastikschachtel mit den bescheuerten bunten Holzstäben, die für mich keinen Sinn ergaben und für meine Eltern auch nicht. Das Mengenlehre-Schiff hatte in der ersten Klasse irgendwie ohne mich abgelegt, und ich schaffte es auch während meiner gesamten Schullaufbahn nie mehr, das Defizit in Mathe aufzuholen. Schon in der ersten Klasse, als alle nur Einsen und einige Schwächlinge Zweien auf ihren Zeugnissen hatten, hatte ich eine Vier. Der Grundstein einer Mathe-Versager-Laufbahn war gelegt. Die anderen Kinder gingen natürlich alle gerne in die Schule und liebten unsere Klassenlehrerin, Frau Bruns, mit ihrer hellblond-hochtoupierten Frisur und ihren viel zu kurzen Röcken. Ich ertrug es in der Schule nur, weil ich wusste, dass danach der schöne Teil des Tages kam: draußen spielen.
    Draußen spielen machte am meisten Spaß, wenn es etwas gefährlich wurde, und das bedeutete, auf Bäume zu klettern, deren Äste brachen, und sich beim Herunterfallen den Arm zu brechen oder bis zur Hüfte im Moor zu versinken und völlig durchnässt nach Hause zu kommen. Mir passierte das so oft, dass es mir irgendwann peinlich war, vor meiner Mutter zuzugeben, schon wieder ins Moor gefallen zu sein. Sie hatte überhaupt kein Verständnis dafür, denn weder ihr noch meinem Vater passierte es, dass sie pitschnass und bibbernd nach Hause kommen mussten. Niemand würde in ein Moor fallen außer mir, sagten sie.
    Deswegen log ich die ganze Zeit. Ich war das verlogenste Kind der Welt, sagten die beiden, und wahrscheinlich stimmte das auch. Wenn ich meine Mutter nur ansah, fielen mir sofort Lügen am laufenden Band ein, eine besser als die andere. Es wäre zu schade gewesen, auf die guten Lügen zu verzichten und stattdessen nur die Wahrheit zu sagen, bei der ich schlecht abgeschnitten hätte.
    Bei den meisten Prügeleien, in die ich verstrickt war, war ich auch Anstifterin. Auseinandersetzungen mit anderen Kindern erreichten für mich immer sehr schnell den Punkt, an dem ich weder Lust hatte, mir weiter auf friedlichem Niveau die dummen Kommentare anzuhören, noch mir kluge Beleidigungen zu überlegen. Wenn Kindern, die mich nur aus der Ferne kannten, nichts mehr einfiel, schrien sie: »Negerin! Negerin!«, hinter mir her. Ich drehte mich dann zornig um und schrie zurück: »Ich bin keine Negerin, ich bin eine Perserin, Mann! Selber Negerin, ihr Blödmänner!«
    »Perserin gibt es gar nicht!«, riefen die Kinder dann. Das war der Moment, in dem ich mit meinem Rad einfach ungebremst in die Menge raste und die Meute kreischend auseinanderstob. Ich wurde eben sehr schnell sehr wütend, was sollte ich machen, und wenn ich wütend war, wollte ich etwas zerstören oder jemanden schlagen. Ob der andere schwächer, kleiner oder viel jünger war,
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