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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond
Autoren: Wäis Kiani
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nölte ich die ganze Zeit vor mich hin: Mir ist langweilig, langweilig, langweilig. Wenn jemand meine Mutter fragte, was ich da sagte, antwortete meine Mutter: Sie ist müde. Man durfte nie die Wahrheit sagen, und da ich es mit den wenigen Worten, die mir zur Verfügung standen, dennoch viel zu oft tat, waren alle ständig schockiert.
    In den ersten Wochen nach unserer Ankunft in Teheran waren sowieso alle sehr aufgeregt, und das Haus meiner Großmutter war voller Leute, die uns begrüßen wollten. Wenn sie wieder weg waren, wurden die Obstteller und Teegläser von den Dienstboten schweigend abgeräumt, und die Erwachsenen lästerten über den Besuch. Das ganze Getue lief unter »Regeln der Höflichkeit« und hatte sogar einen Namen: Taarof. Taarof war etwas, was aus purer Höflichkeit gesagt wurde, um den anderen zu gefallen, was aber in keinster Weise der Wahrheit entsprach. Die Kunst bestand darin, das zu erkennen und mit passenden Lügen zu antworten. Wenn ich in Mamans Garten Maulbeeren vom Baum pflückte und aß, zischte meine Mutter sofort: »Lass ihre Maulbeeren, sie mag das nicht.«
    Dann rief Maman, ich solle doch bitte, bei ihrem Leben und beim Namen des Propheten Abbas, alle ihre Maulbeeren essen. Bei ihrem Tod und ihrer Geißelung sollte ich sie essen!
    Und ich sagte dann zu meiner Mutter: »Schau, ich darf sie essen!«, und schob mir eine Handvoll prächtiger dunkelroter Beeren in den Mund, und meine Mutter wurde sehr wütend und schüttelte mich:
    »Nein, das will sie nicht! Sie macht doch nur Taarof! Ich kaufe dir gleich so viele Maulbeeren, wie du willst! Fass ihre Maulbeeren nicht an!«
    »Aber warum sagt sie es dann?«, jaulte ich, während meine Mutter mich aus dem Garten zog.
    »Das ist Taarof!«, blökte meine Mutter mich an. »Versteh das endlich!«
    Das ganze Leben bestand aus Taarof, fast nie sagte jemand die Wahrheit. Ich fand das sinnlos, verstand sowieso nicht viel und hörte einfach nicht mehr zu, wenn Leute redeten. So hing ich meinen eigenen Gedanken nach, in denen ich mit Jungs in den Wipfeln eines Kastanienbaumes saß und über die Felder spähte.
    »Lilly! Antworte gefälligst, wenn man dich etwas fragt.«
    Und dann kam das Wort, das meine Mutter mittlerweile ständig böse zu mir sagte:»Badde!« Badde hieß so viel wie: Das ist unverschämt, unerhört und schlecht erzogen. Das macht man nicht. Alles in einem einzigen Wort. Badde konnte sie zischen, brüllen, keifen, flüstern oder auch ganz ruhig sagen. Ich kannte unzählige Versionen, Badde auszusprechen, und ich bekam sie permanent zu hören.
    Es war ein Pulverfass, ich war wie immer, aber meine Eltern waren anders, sie flippten plötzlich ständig aus. Plötzlich ging nichts mehr, was früher normal war.
    Alle waren, auch wenn sie nur Schwachsinn redeten, immer übertrieben liebevoll, freundlich und großzügig zu mir, wie ich es in Deutschland noch nie erlebt hatte. Deshalb wusste ich nicht, ob wirklich alle so verlogen waren, wie meine Eltern meinten, oder ob meine Eltern einfach nur verrückt geworden waren.
    Der Schwachsinnigste von allen war mein Onkel Mohsen, der merkwürdige Mann meiner Tante Mahin. Ihn sollte ich nicht Mohsen Djun nennen, sondern Mohsen Agha. Er nannte mich Lilly Chanum. Chanum ist so etwas wie die Anrede »Frau«, aber man nannte so auch Dienerinnen. Fatima Chanum hieß die Dienstbotin von Maman, und Assghar Agha war ihr Ehemann und Mamans Knecht. Sakine Chanum hieß die von meiner Tante. Die Tante war gar nicht so übel, und ich weiß bis heute nicht, warum sie erst mit 25, also spät für ein persisches Mädchen aus der Generation meiner Eltern, einen Mann aus der entfernten Verwandtschaft fand, der sie heiratete und mir dadurch furchtbar auf die Nerven gehen konnte. Mohsen Agha redete grundsätzlich nur in Floskeln. Ich mochte ihn von der ersten Sekunde an überhaupt nicht und wusste nicht, wie sie jeden Tag mit so einem Menschen zusammen sein und sogar mit ihm in einem Bett schlafen konnte. Er war sehr klein, sehr behaart und immer etwas bedrückt, und wenn er mal lachte, war es künstlich. Man wusste nie, was er wirklich dachte. Außerdem hatte er ganz kleine Füße. Ich hatte noch nie einen Mann mit so kleinen Füßen gesehen. Der Anblick seiner kleinen Schuhe zwischen den ganzen anderen Schuhen in Mamans Eingangshalle ließ in mir eine unbändige Lust aufkommen, seine Schuhe mit ganz vielen der weichen ekligen Datteln, die in einer silbernen Dose auf einem der vielen Tischchen standen, zu
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