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Hinter blinden Fenstern

Hinter blinden Fenstern

Titel: Hinter blinden Fenstern
Autoren: Friedrich Ani
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einfach nur da, vor ihm, in Atemnähe, und ihr Atem fegte über ihn hinweg wie ein fremder Wind und roch nach Pfefferminz.
    »Karin«, sagte er und räusperte sich. »Karin.« Er wollte, daß sie sich zusammenriß. Auf die Idee, sie zu umarmen, kam er nicht.
    Erst hinterher, als sie schon draußen war und er mit ihrem durchnässten Papiertaschentuch im Flur ausharrte und sein Blick in den Spiegel mit dem Silberrahmen fiel und sein Spiegelgesicht ihn zittern ließ. »Willst du einen … Soll ich dir einen … ein Glas …«
    Sie schüttelte den Kopf. Oder ihr Kopf zuckte von innen her, was er für möglich hielt. »Bitte«, sagte er und wußte, daß seine Stimme in ihrem Seufzen unterging.
    Eine Weile weinte sie lautlos. Dann schniefte sie wie ein Mädchen und griff mit der rechten Hand, an der der kleine Schirm baumelte, in die Manteltasche. Sie zog ein Taschentuch hervor, tupfte sich das Gesicht ab und hielt es ihm hin und lächelte. Über dieses Lächeln wunderte er sich lange. Er nahm das Taschentuch, zerknüllte es in der Faust und nickte. Er nickte mehrmals hintereinander, als wäre er mit etwas einverstanden, das er nicht begriff, und überlegte, ob er sie zur U-Bahn begleiten sollte. Lust dazu hatte er nicht, aber er würde es tun. Wegen des Augenblicks, wegen der Situation, vielleicht nur wegen des Regens und weil er sowieso noch zu Luis wollte.
    »Ich muß gehen«, sagte Karin. Ihre klare Stimme verblüffte ihn. »Ich nehm auf jeden Fall die letzte Bahn.«
    »Und wenn’s länger dauert, nimmst du ein Taxi«, sagte er.
    »Es dauert nicht länger.«
    »Bis jeder seine Geschichte erzählt hat, ist es drei in der Früh«, sagte er.
    »Die Fuhrmann Britta ist auch schon tot.«
    »Das hast du mir erzählt.«
    »Wirklich?«
    »Als du die Einladung zu dem Treffen gekriegt hast.«
    »Stimmt. Entschuldige.« Sie sah ihm in die Augen, hielt inne, wand – ziemlich umständlich, wie er fand – ihr Handgelenk aus der Kordel, nahm den Schirm in die andere Hand mit der Tüte, zog seinen Kopf zu sich heran und küßte ihn auf den Mund, fest, beinah leidenschaftlich, und ihr Lippenstift schmeckte nach Kirsche.
    Er wollte noch einmal fragen, für wen das Geschenk bestimmt sei, doch sie hatte schon die Wohnungstür geöffnet und einen Schritt ins Treppenhaus getan. An die Sekunden zwischen dem Kuß und ihrem Weggehen erinnerte er sich nicht mehr.
    »Grüß Luis von mir. Und mach dir was zu essen.« Bevor sie die Tür von außen schloß, sagte Karin: »Und zieh dir was drüber, damit du dich nicht erkältest in diesem eisigen Sommer.«
     
    In diesem eisigen Sommer rannte er durch die Nacht. Und als er den Club Dinah erreichte und sich den Regen aus dem Gesicht wischte, mußte er an die verdutzten Gesichter in Luis’ Kneipe denken. Und er fing an zu kichern, wie zu Hause, und als Mika die Tür aufstieß und ihm auf die Schulter klopfte und ihn zur Bar begleitete, kicherte er noch immer.
    »Bist du betrunken?« fragte Clarissa.
    »Nein.«
    »Dann bist du heut lustig.«
    »Ja«, sagte er, »ich bin heut lustig.«
    »Warum?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Du bist noch nie am Samstag hier gewesen.«
    Cornelius Mora trank Pils, das billigste Getränk im Club. Es war nach elf und er der einzige Gast. Außer bei Messen oder in der Zeit des Oktoberfests tauchten in den unscheinbaren Etablissements im Münchner Osten, die sich von den Einfamilienhäusern in der Nachbarschaft höchstens durch den asphaltierten Parkplatz im Hinterhof unterschieden, an den Wochenenden nur vereinzelt Gäste auf.
    Den Abend hatten Clarissa und ihre Kolleginnen mit Kartenspielen, Fernsehen und Lesen verbracht.
    »Ist deine Frau nicht zu Hause?« Clarissa rührte mit einem roten Strohhalm in ihrem Sektglas.
    »Laß das, bitte« sagte Mora.
    »Ich muß das machen, das weißt du genau, sonst geht die Kohlensäure nicht weg.«
    »Dann trink Wasser ohne Gas.«
    »Jetzt bist du nicht mehr lustig. Wollen wir gehen?«
    »Noch nicht.«
    Seit seinem ersten Besuch im Club Dinah folgte er ihr, nachdem er ein oder zwei Biere und sie ihren Sekt getrunken hatte, in das schwarze Zimmer im oberen Stock, wo sie ihm Befehle erteilte und er ihr gehorchte. Eines Abends hatte er damit begonnen. Und wenn er heute, zwei oder drei Jahre später, bei einem Glas Calvados in seinem Wohnzimmer darüber nachdachte, warum, fand er keine Antwort. Als junger Mann hatte er solche Spiele mit mäßigem Interesse in Pornofilmen verfolgt und dann nach seiner Heirat vergessen. Wenn seine Frau ihn
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