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Hinter blinden Fenstern

Hinter blinden Fenstern

Titel: Hinter blinden Fenstern
Autoren: Friedrich Ani
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fragte, ob er zufrieden sei, nahm er sie in den Arm oder küßte ihren Busen und schlief mit ihr ein. Auf die Idee, ihr bestimmte Experimente im Bett vorzuschlagen, wäre er nie gekommen.
    »Ich hab was vergessen«, sagte er und hob sein fast leeres Bierglas.
    »Du zitterst ja.«
    »Ich bin ein Depp.«
    Ihre Hand glitt über seinen Oberschenkel, er sah nicht hin.
    »Sie hat geweint«, sagte Mora. »Ich hätt sie umarmen müssen.«
    »Warum hast du’s nicht getan?« Sie packte den Hosenstoff zwischen seinen Beinen.
    »Hab’s vergessen.«
    »Dann umarmst du sie später.« Sie spürte seine Erregung und wollte keine Zeit mehr verlieren. Außerdem war sie müde und mißgelaunt und bis zum Hals wütend über den Mann, den anderen, der sie heimlich beobachtete und glaubte, sie würde nichts bemerken. »Komm jetzt«, sagte sie hart und schlug auf seine Hose, fester als beabsichtigt.
    Mora sprang vom Barhocker und knallte das Glas auf die Theke. »Zahlen! Ich muß gehen!« rief er, fingerte in der Innentasche seines Jacketts nach dem Portemonnaie und ließ es beim Herausziehen fallen. Er wollte sich bücken, doch Clarissa stellte sich nah vor ihn. Ohne ihn zu berühren, ging sie in die Hocke, griff nach dem Geldbeutel und richtete sich in einer langsamen, geschmeidigen Bewegung auf. Den Duft, den er einsog, kannte er gut, auch das Geräusch ihrer Stiefel, ihren lauernden Blick, die Forderungen ihrer Finger, er kannte Clarissas Technik und Tricks, und er hatte sie von Anfang an akzeptiert und nie verstanden, wieso.
    Und er verstand nicht, wieso er ihr auch an diesem eisigen Sommerabend in den ersten Stock folgte, obwohl er eben noch bezahlen und keinen Cent mehr für etwas verschwenden wollte, dessen tieferer Grund ihm so fremd war wie der seiner Geschäftsaufgabe, die seine Frau eine Schmach nannte.
     
    »Fünfunddreißigjähriges Abiturjubiläum«, sagte er, während er seine Kleidungsstücke auf den Eisenstuhl unter das mit schwarzem Tuch verhangene Fenster legte. Im griesligen blauen Licht bemerkte er nicht, wie Karins zerknülltes Taschentuch aus seiner Hose rutschte. »Irgend jemand bekommt ein Geschenk. Ich weiß nicht, wer. Ich hab sie gefragt. Vielleicht ein Verehrer von früher. Sie ist nie zu den Treffen gegangen, nur einmal, vor ungefähr fünfzehn Jahren. Sie hatte keinen Kontakt mehr mit ihren Schulkameradinnen. Die eine oder andere ist manchmal in unsren Laden gekommen, auch mal ein Ehemann, um einen Film entwickeln zu lassen. Er hat dann gesagt, wer er ist und daß seine Frau demnächst meine Frau unten in der Parfümerie besuchen möchte. Sie hat aber nie darüber gesprochen. Lange her. Heute hat Karin erwähnt, daß eine ehemalige Schulkameradin gestorben ist. Britta Fuhrmann. Ist auch schon tot, hat sie gesagt. Wieso ›auch‹? Das fällt mir jetzt auf. Sie hat gesagt: auch schon tot. Wer noch? Wer noch? Und für wen ist das Geschenk? Ich hab nicht in die Tüte geschaut. Ich bin ganz sicher, daß es ein Geschenk war, Karin hat auch nicht widersprochen. Was soll denn sonst drin gewesen sein?«
    »Knie dich hin!« befahl Clarissa.
    Er kniete sich hin.
    »Steh auf.«
    Er stand auf.
    »Beweg dich.«
    Er bewegte sich.
    »Halt still.«
    Er hielt still.
    »Hörst du das?«
    Er hörte das Zischen der Gerte und drehte den Kopf.
    Und er sah seine Frau an der Tür, sie blickte durch den matt erleuchteten Flur und flüsterte ihm etwas zu, das er nicht verstand. Er hätte den Calvados nicht trinken dürfen, dachte er und wollte einen Schritt machen und stieß mit dem Fuß gegen den Rahmen der Wohnzimmertür. Der Schmerz jagte seine Wade hinauf, er hatte nur Socken an, und ihm war kalt, und seine große Zehe brannte. Und er wollte jetzt wissen, wem Karin das Geschenk mitbrachte. Aber sie war verschwunden.
    In diesem Moment, am Lederkreuz im schwarzen Zimmer, sah er seine Frau an der U-Bahn-Station, und sie wartet nicht auf den Zug, sie geht ihm entgegen. Sie läßt die Plastiktüte und den Schirm fallen und kümmert sich nicht weiter darum. Kümmert sich nicht um die anderen Leute. Sie steigt zu den Gleisen hinunter und läuft auf den schwarzen Schacht zu. Und der Wind der nahenden Bahn fegt ihr die Mütze vom Kopf und wirbelt ihre grauen Locken auf. Mit gefalteten Händen, so, wie sie oft unten in der Parfümerie gestanden und auf Kunden gehofft und nicht bemerkt hat, wie er sie von oben, von der Fotoabteilung aus, mit klammem Herzen beobachtet, verschwindet sie im Tunnel und erwartet das Heranrasen der beleuchteten
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