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Himmelsspitz

Himmelsspitz

Titel: Himmelsspitz
Autoren: Christiane Tramitz
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hinüber zum dunklen Wald, in dem Bizarres ihn empfing und ihn geleitete durch die Wirrnis. Die Äste bogen sich zur Seite und wiesen ihm den Weg, die Halme knickten zu Boden und zeigten den Pfad. Während Karl dahineilte, so schnell, wie es die Unwegsamkeit erlaubte, gehetzt von der Zeit, die ihm noch blieb, bis der Sargdeckel sich verschloss, weinten unten die Schwarzgekleideten, doch waren sie nicht voller Trauer.
    Nein, Erschütterung hatte ihnen die Tränen in die Augen getrieben, denn Agnes’ Bangen und Hoffen war umsonst gewesen, denn nun war der einzige Zeuge von ihnen gegangen. Und er würde schweigen für immer.
     
    Ich bin wie taub und höre nicht, und wie ein Stummer, der seinen Mund nicht auftut. Ich muss sein wie einer, der nicht hört und keine Widerrede in seinem Munde hat.
    HERR, höre mein Gebet und lass mein Schreien
    zu dir kommen! Verbirg dein Antlitz nicht vor mir
    in der Not, / neige deine Ohren zu mir;
    Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch,
    und meine Gebeine sind verbrannt wie von Feuer.
    Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie Gras.
    Mein Gebein klebt an meiner Haut vor
    Heulen und Seufzen.
    Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel
    auf dem Dache.
    Ich bin wie die Eule in der Einöde, wie das Käuzchen
    in den Trümmern.
     
    Durchs hohe Gras sah Karl ihn liegen, den Tremplerhof, halb verfault, die Mauern verfallen, das Dach eingestürzt.
    Die Tür schlug im Wind. Karl brach die schweren Äste mit der Axt und betrat den Hausgang. Ein zerzaustes Bärenfell breitete sich vor ihm auf dem Boden aus. Der mächtige Kopf baumelte über einem schwarzen Loch, als suchte er dort etwas.
    Karl holte die Taschenlampe hervor und leuchtete in die Tiefe. Am Grund, dort sah er etwas glänzen.
    Vorsichtig stieg er die Stufen hinab ins Dunkel.
    Ein Silberknopf war’s, was glänzte – ein Silberknopf in bleicher, kleiner Knochenhand.
     
    Verborgen gräbt der böse Bube hier andern eine tiefe Grube; doch sinkt er unter Schmach und Pein in seine Grube selbst hinein. Auf Unglück brütet seine Tücke, doch kehrt’s auf seinen Kopf zurücke; die Rache Gottes schrecket ihn und stürzt auf seinen Scheitel hin.
     
    So schloss Fertl seine Worte.
     
    Langsam neigte sich der Tag dem Abend zu.
    Der Kapitän hatte die kurvige Straße des engen Tals verlassen. Hinter den Reisenden schrumpften die Berge, bis sie schließlich in der Dämmerung verschwanden. Auch wenn das Tageslicht erlosch, die Nacht hereinbrach, auch wenn die Zeiger von Horsts goldener Uhr rastlos von Minute zu Minute eilten, fühlte Isabel die Zeit nicht vorwärts, sondern rückwärts verrinnen, denn ihre Gedanken waren von Erinnerungen beherrscht. Tiefer und tiefer tauchten sie in all das, was geschehen war, und dachten nicht an Zukünftiges.
    Sie spürte das Kuvert in ihrer Jackentasche. Noch am Stubentisch hatte sie den Brief geöffnet und gelesen, was sie sich erhofft hatte. Mit zittrigen Knien war sie zum Kapitän zurückgeeilt.
    »So, jetzt wird es aber wirklich Zeit, dass wir hier endgültig Abschied nehmen«, hatte Horst ungeduldig gesagt.
    »Ja«, hatte Isabel geantwortet.
    Ein freudiger Schauer lief ihr über den Rücken, als sie Horst von der Seite anblickte. Zeit des Abschieds von dir.
    Sie sah sich zu Lea um. Das Kind war eingeschlafen, das friedlichste und zufriedenste Lächeln auf dem Gesicht, das Isabel jemals bei ihrer Tochter gesehen hatte.
     
    Auch in der Trauerstube wurde es langsam finster, die Kerzen am Sarg waren erloschen, eine nach der anderen. Es brannte nur noch das Totenlicht. Die Fuchsbichler erhoben sich von ihren Gebeten. Zeit, auch hier den Abschied zu besiegeln. Gemeinsam ergriffen ihre Hände den Sargdeckel, führten ihn über den Toten, um ihm das letzte Licht der Erde zu nehmen und ihn dem Dunkel des Jenseits zu überlassen.
    Da plötzlich wurde die Tür aufgestoßen, und Karl kam hereingestürmt. Atemlos und gehetzt stand er vor den Fuchsbichlern.
    »Wartet«, sagte er. »Es ist noch net so weit.« Erstaunt legten die Trauergäste den Deckel zu Boden. Mit gesenktem Haupt näherte sich Karl der Kraxnertochter.
    »Endlich«, sagte er zu ihr, »endlich, liebe Agnes, ist er g’funden worden, dein Tobi. Droben ist er, weit droben. Gott hat ihn zu sich g’holt. Ich hab ihn g’sehn. Nun kannst ihn in Frieden betten.«
    Agnes blickte ihn mit leuchtenden Augen an und schüttelte den Kopf.
    »Nein, nein«, erwiderte sie, »nicht droben. Heut feiern wir seinen Geburtstag. Weißt, Karl, sein Geburtstag.«
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