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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich
Autoren: Rolf Dobelli
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Einbildung sein mußte oder Wahn, diese Verzerrung der Wahrnehmung. Die Aufregung hatte mich in einem vitalen Punkt getroffen, wo ich sie nicht abstellen konnte.
    Zehn Tage nach dem Literaturanlaß treffen wir uns am Bellevue. Es regnet. »Schade um den Vollmond«, sagt sie, »jetzt ist er ins Wasser gefallen.« Wir sitzen in einem Cafe, draußen, unter einem kleinen Vordach, so eng an der Hauswand, wie es nur geht. Sie hat ihre Beine ganz unter den Stuhl zurückgezogen. Meine sind ausgestreckt, die Schuhspitzen ragen unter dem Metalltischchen hervor. Auf dem schwarzen Schuhleder spiegelt sich eine Straßenlaterne. Meine Krawatte habe ich vorsorglich ausgezogen. Ich bin entschlossen, mich nicht zu verlieben. Ich hätte viel zu sagen, aber nichts, was zu diesem Regen paßt, und so schweige ich. Mein Blick, geradeaus in den Regen, dann wieder in ihre Augen, gibt ihr offensichtlich die Gewißheit, daß ich kein Verführer bin. Sie trinkt einen gespritzten Weißen mit Eiswürfeln (bei diesem Wetter). Mein Espresso ist schon lange ausgetrunken. Der Kellner hat uns bereitwillig vergessen, weil es keinen Zugang zu unserem Tischchen gibt, ohne daß er naß würde, sonst hätte ich auch noch einen Weißen bestellt, einfach um die Kontrolle über die Zeit wieder an mich zu reißen. Zum Glück gibt es noch den Verkehr. Wir reden über Kinder (sie hat keine), so wie man über Politik redet oder ein öffentliches Bauvorhaben. Der Kellner, der mich gesehen hat und so tut, als müsse er gerade jetzt unter dem Eingang sein angesammeltes Trinkgeld zählen. Ihr zu kurzer Mantel - grau, vermutlich modisch, Geknüpfe aus dicken Zwirnen. Es erniedrigt einen Mann, von einem Kellner nicht beachtet zu werden. Die Knie einer Frau, die eigentlich nie schön sind, und ihre Unterschenkel, die aufregenden, die sie unter ihrem Stuhl verborgen hat. Ich winke dem Kellner demonstrativ nicht. Zeit wie noch nie. Manchmal nippt sie an ihrem Glas - das helle Klingeln der Eiswürfel. Übrigens ist auch sie der Meinung, daß der Mann in fünfzig Jahren nur noch ein Accessoire der Frau sein wird. Ich schiebe meine leere Espressotasse an den äußersten Rand des Tischchens. Ihr Haar ist länger als damals bei der Lesung, oder ich meine es nur. Hingegen stimme ich ihr in bezug auf Ulysses überhaupt nicht zu. Miserabel dieses Buch, sage ich, jawohl, vollkommen ungenießbar. Dabei kenne ich es nur flüchtig aus der Schule. Sie lacht, als hätte sie mich ertappt. Ich verstehe Menschen nicht, die an einem bestimmten Buch kleben, sowenig wie ich Menschen verstehe, die an irgendwas anderem kleben, ich meine, worin besteht denn der Genuß, dieselben Szenen immer und immer wieder zu erleben, es macht, es sei denn, man hätte ein Sieb von einem Hirn, Schlichtweg keinen Sinn. Das heißt, man erlebt nicht einmal, sondern stellt sich ja nur vor, tagträumerisch und also ineffektiv. Vielleicht mache ich mir deshalb nichts aus Romanen. Immer wieder ihr stiller, offener Blick. Warum soll ich verschweigen, daß ich sie aufregend finde, geradezu elektrisierend? (Ich verwende dieses Wort tatsächlich.) Sie sagt nichts dazu, trinkt nur ihren gespritzten Weißen leer. Sie stellt das leere Glas mit den abgerundeten, quirligen Eisklötzen neben meine leere Espressotasse. Jetzt ist auch der Kellner wieder da. Der Regen hat etwas nachgelassen, so daß er nicht mehr so naß wird. Sie ist für Bezahlen. Hunger, meint sie. Ich hätte jetzt gern noch etwas bestellt, aber weiß nicht, warum ich mir plötzlich so unselbständig vorkomme. Dabei führe ich viertausend Mitarbeiter, selbst in diesem Moment führe ich sie, man hört nicht auf zu führen, nur weil Feierabend ist. Das sage ich ihr natürlich nicht. Selbstverständlich lasse ich mich nicht von einer Frau einladen. Ich hinterlasse Trinkgeld, als hätte dieses Arschloch von einem Kellner mir das Leben gerettet. Sie steht schon, als ich die Quittung falte und in meine Brieftasche stecke - eine unsinnige Marotte von zu vielen Geschäftsessen. Ich zerre die Quittung wieder aus der Brieftasche und lasse sie, seltsam berührt von meiner Korrektheit, auf das Tischchen segeln. Jetzt stehen wir beide. Es ist nicht zu vermeiden, das Nebeneinanderstehen. Plötzlich fühle ich mich für das Wetter verantwortlich. Weil wir keinen Schirm dabeihaben, werden wir beide naß. Ihrem dicken Mantel sieht man die Regentropfen nicht an. Meinem hellen Trenchcoat hingegen schon. Als wir die Straße überqueren, schaue ich noch einmal zurück, um mich zu
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