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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich
Autoren: Rolf Dobelli
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bleibt, einzeln und meist abgeknickt, verdorrt, ein junger Strunk. Bei tiefem Wasserstand liegen Sandbänke stellenweise frei, liegen in der Sonne, werden heiß und hell, und ich setze mich in diesen Sand, mit angezogenen Beinen und nach hinten abgestützten Armen. Wärme, die sich lebendig zwischen den Fingern und den Zehen ansammelt. Ich lege mich ganz hinein, in den feinen, erhitzten Sand, auf den Rücken, mein Haar mit winzigen Sandkörnern vermengend, und ich beginne, Engelsabdrücke zu machen - mit den Armen hin und her rudern, bis sich Flügel gebildet haben, und dann vorsichtig aufstehen und daneben gleich noch einen Engel in den Sand zeichnen und noch einen. In manchen Flügeln sehe ich Augen aufgehen. Ich liege da, mein Haar im Sand, und ich fühle, wie der Sand sich allmählich abkühlt und wie das Wasser kommt mit seinen unruhigen Wellen und am ganzen Körper zerrt, bis um Mitternacht das Hochwasser da ist und die Engel aus der Ebene spült, aber ich bleibe liegen, ich kralle mich im Untergrund fest, bis es nicht mehr geht, bis der Strom mich mitnimmt und dorthin schwemmt, wo die Engel liegen...
    Am Nachmittag hole ich mein Auto aus dem Parkhaus und fahre vor den Spitaleingang. Eine Krankenschwester hält Lily in den Armen, eingepackt in dieselbe Decke, in der ich sie gebracht habe. Auch der Arzt steht da. Passen Sie gut auf Ihre Kleine auf. Was sie jetzt braucht, ist vor allem Ruhe, viel Schlaf. Ich nehme Lily aus den Armen der Schwester entgegen, die sie, so habe ich das Gefühl, ein bißchen ungern hergibt. Wie leicht sie geworden ist, denke ich. Ich küsse sie auf die Stirn. Ihr Hals, ihre schmalen Lippen. Ihre Augen im Sonnenlicht. Ich bette Lily in den Kindersitz, den ich auf dem Rücksitz festgeschnallt habe. Ich kurble die Scheibe hinunter. Danke, rufe ich dem Arzt zu, und dann - einfach so - leben Sie wohl! Dann löse ich die Handbremse, und wir rollen die Rämistraße hinunter, es ist wie Schlittenfahren, ich brauche kaum Gas zu geben, wir rollen wie von selbst zum Bellevue, wo wir eine, zwei, drei Pirouetten um den Platz drehen, dann weiter, über den General-Guisan-Quai hinweg aus der Stadt hinaus. Es herrscht wenig Verkehr. Ab und zu ein Flugzeug, das aus Zürich-Kloten in den Himmel steigt. Einmal schaue ich noch zurück, der See, die Dächer und Türme der Stadt, auch die obersten Stockwerke der Bankzentrale sichtbar im Gewimmel, wir nehmen die A1 Richtung Bern, Genf, Richtung Frankreich - Dijon, Paris, Nantes, wer weiß? -, vielleicht über Andorra nach Spanien, vielleicht nach Portugal, vielleicht auch noch viel, viel weiter.

ENDE
     
     
     
     
     
     
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