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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich
Autoren: Rolf Dobelli
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zum Universitätsspital. Die Dame bei der Einlieferung versteht nicht, daß man den Geburtstag seiner eigenen Tochter nicht kennen kann, geschweige denn die Geburtsstadt, sie drückt mir das Formular noch einmal in die Hand: »Seien Sie nicht albern, Herr Himmelreich.«
    Ich bin gezwungen, eine Biographie zu erfinden.
    Die Operation am Montag. Urn halb zehn wird sie abgeholt und in die Narkose gebracht. Von dort aus direkt weiter in den Operationssaal, wo sie mich nicht hineinlassen, nicht einmal vor der Tür mit der kreisrunden Scheibe darf ich stehenbleiben. Man muß mich mit Gewalt von dieser Tür wegzerren. Um zwölf Uhr nehme ich den Lift in die Cafeteria. Dort versuche ich etwas zu essen. Es gelingt mir nicht einmal, die Cola-Flasche aufzudrehen. Die Zeitungen im Warteraum -Bilder von Staatsempfängen, von einer Bank, die eine andere Bank verschluckt, dazu Interviews mit den Aufsichtsräten, die Börsenkurve, die mit ihrem Auf und Ab einen Stromgenerator antreiben könnte, die Sportseiten - alles nur Buchstaben. Ich blättere, ohne zu lesen, ich blättere um des Raschelns willen.
    Die Operation dauert länger als geplant. Ich stehe im Garten des Spitals, Hände in den Hosentaschen, noch immer derselbe Herbst, schattenblaugolden, ein kleiner Rasen, fast schon ein Park, Bäume, an die sich die Blätter klammern wie an einen Liebhaber.
    Um 14 Uhr die Nachricht, daß die Operation durch sei.
    Um 16 Uhr, nachdem man sie vom Aufwachraum in ihr Zimmer gebracht hat, darf ich sie sehen. Lily in ihrem Bett. Der Infusionsschlauch, die Herzstromkurve, das elektronische Thermometer, dieses ganze Kabelgewirr, alles viel zu groß. Das Heben und Senken ihres winzigen Körpers. Ihre Lippen sind schmal, die Lider fast durchsichtig. Ich frage mich, was hinter diesen Lidern vor sich geht, was in diesem Hirn vor sich geht, was sie träumt, falls sie etwas träumt. Ihre Augen wissen nicht, wohin. Aber sie scheint die Vögel zu hören, als ich das Fenster kurz öffne. Ich streue Brotkrümel auf den Fenstersims, damit sie kommen und zwitschern.
    Ich verbringe Tag und Nacht im Krankenhaus.
    Dann bricht der Herbst zusammen. Tagelang regnet es. Keine Vögel. Ich öffne das Fenster ihres Zimmers und höre dem Spritzen des Verkehrs zu. Hinter der Kaltfront die Alpen in Weiß.
    Ich denke viel an den Meeresgrund in diesen Tagen. Meeresgrund, den man auf Schulkarten sieht, gigantische Berge, eingefärbt in Schwarz, Blau und Violett, und nur wo die Spitzen das Wasser durchstoßen, sind es weiße Tupfer mit exotischen Namen.
    Eines Tages kommt ein Assistenzarzt und zieht den letzten Infusionsschlauch weg.
    Dann kommt ein letztes Mal der Herbst. Noch einmal die Sonne, noch einmal die Wärme um die Mittagszeit, die kühlwarme Luft am späteren Nachmittag. Je nachdem, ob man in der Sonne steht oder im Schatten, ist es warm, oder man friert ein bißchen.
    Am Tag der Entlassung bin ich schon in aller Herrgottsfrühe im Spital. Am Empfang vertröstet man mich auf den Nachmittag - die Schlußuntersuchung hat sich verzögert. Über Mittag besuche ich ein letztes Mal den kleinen Park neben dem Spitalgebäude. Das Knirschen im Kies. Ich lege mich ins Gras. Das flüssige Gold dieses Mittags. Ich träume. Ich sehe: unendliche Ebenen, Flußläufe, Weiden an den Ufern, langes, sanftes Gras in Fließrichtung wie gekämmtes Haar. Ein Strom in der Farbe von Haselnuß. Ab und zu ein Schiff, das vorwärts kriecht in diesem Wasser. In der Ferne: Striche von Pappeln, Augenbrauen in einer Flußebene. Weiter in der Ferne: die harten Begrenzungen der Buchen- und Eschenwälder, ausgestanzt im Hellgrün der Wiesen. Wege, wie von Hand gezogen, gerade, aber leicht verzittert, die sich über die Ebene spannen, die Pappeln entlangfahren und die Wälder durchkreuzen. Am Fluß brechen sie ab, kriechen als Anlegestellen noch ein wenig ins Wasser hinaus, als Holzstege oder Anlegeplätze für Fähren. Weit weg, im Dunst, sehe ich Berge, weiße Ungetüme, mit Eiszacken und Firnen und schwarzen Felskanten, über die hinab das Wasser in Staubbächen fällt und je nach Wind an anderen Felswänden versprüht. Über der Kante steigt ein leichter Wasserrauch auf, heller als die Luft, und über dem Wasserrauch, ganz dünn, ein Kondensstreifen.
    Wo Flüsse zusammenfließen: Geröll, vom Wasser abgeschliffen, Dreiecke aus Kies, wo nichts wächst, Sand bis hin zum letzten Korn, das die Gewässer voneinander trennt. Ab und zu der vergebliche Versuch eines Strauches, im Geröll zu nisten. Es
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